DOKUMENT 5: Behandle jeden wie den Buddha, Artikel von Yongey Mingyur Rinpoche, 9. August 2017

DBU Diskurs   >   Thema: Sogyal Rinpoche: Fehlverhalten oder Vajrayana?

Yongey Mingyur Rinpoche, geboren 1975, kommt aus Nepal und ist Lehrer und Meister in den Karma-Kagyü- und Nyingma-Linien des Tibetischen Buddhismus. Er hat bekannte Bücher geschrieben und die Tergar Meditationsgemeinschaft gegründet, ein Netzwerk verschiedener Tergar Praxis Gruppen unter seiner Leitung. Wir publizieren den folgenden Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Online-Ausgabe des Magazins „Lion‘s Roar“, wo der Artikel erstmals erschien. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Frank C. Hofmann.

Wir publizieren den folgenden Beitrag mit freundlicher Genehmigung con Tom Olmstedt, der in hoher Verantwortungsposition für die Meditationsgemeinschaft Tergar tätig ist, die von Yongey Mingyur Rinpoche gründet wurde. Auf Englisch erschien der Artikel bereits in der Online-Ausgabe des Magazins „Lion‘s Roar“.

Als buddhistischem Lehrer stellt man mir oft Fragen über Meditation und tiefgründige buddhistische Prinzipien wie Abhängiges Entstehen und Leerheit. Ich teile gern, was ich über diese Themen weiß. Aber mir ist aufgefallen, dass mich Leute selten nach Ethik fragen und danach, wie man ein tugendhaftes Leben führt.

Es ist richtig, dass Meditation in der buddhistischen Tradition eine wichtige Rolle spielt. Da gibt es keinen Zweifel. Dasselbe kann über das Studium buddhistischer Ideen und Philosophien gesagt werden. Aber in vielerlei Hinsicht sind Ethik und Tugend das Fundament des buddhistischen Weges.

Der Buddha selbst lebte ein Leben der Güte, der Bescheidenheit und des Mitgefühls. Er verkörperte vollständig das, was er lehrte und die Sangha, die um ihn wuchs, folgte seinem Beispiel. Es gab viele Gelegenheiten, bei denen Schüler vom Weg abkamen und sich unangemessen benahmen – manchmal in urkomischer Art und Weise – aber diese Vorfälle wurden als Gelegenheiten genutzt, um wichtige Werte zu verdeutlichen und der Gemeinschaft zu demonstrieren, wie ein tugendhaftes Leben zu führen sei. Seit den frühen Tagen des Buddhismus war ethisches Verhalten ein ebenso zentraler Bestandteil des buddhistischen Weges wie Meditation, Studium und Kontemplation.

Heutzutage stellen mir Leute Fragen über Ethik nur, wenn es zu Skandalen oder Streit in buddhistischen Gemeinschaften kommt. Trotz des klaren Stellenwerts von Gewaltlosigkeit und Mitgefühl in der buddhistischen Tradition sind sich viele Schüler nicht sicher, wie sie mit diesen Situationen umgehen sollen. Ich kann verstehen, warum sie verwirrt sind. Es gibt viele verschiedene buddhistische Überlieferungslinien und Lehrmeinungen und es ist schwer, über alle verschiedenen Lehrinhalte, Praktiken und ethischen Rahmenkonzepte die Übersicht zu behalten.

Das gilt besonders für die tibetische Tradition, in der wir drei verschiedene Ansätze haben – wir nennen sie yanas oder Fahrzeuge – die in einem Pfad buddhistischer Praxis miteinander verwoben sind. Diese sind das Grundlagen-Fahrzeug der individuellen Befreiung, das Mahayana-Fahrzeug des Großen Mitgefühls und das Vajrayana-Fahrzeug des unerschütterlichen Gewahrseins. Diese Kombination ist einer der einzigartigen und schönen Aspekte des tibetischen Buddhismus‘, aber sie macht Dinge nicht immer einfach.

Ethik im tibetischen Buddhismus

Im tibetischen Buddhismus praktizieren wir die drei yanas zusammen und das schließt die Praxis der Ethik mit ein. Lassen Sie mich das genauer ausführen.
Das grundlegendste ethische Prinzip im yana der individuellen Befreiung ist die Gewaltlosigkeit, die Verpflichtung, es unter allen Umständen zu vermeiden, anderen zu schaden.
Wenn wir das Mahayana mit dazu nehmen, vergessen wir die Gewaltlosigkeit nicht, sondern führen sie mit der Praxis von Bodhicitta einen Schritt weiter. Dies ist die Verpflichtung, allen Lebewesen zu helfen, die vollkommene Erleuchtung zu erlangen.
Das Vajrayana schließlich führt die Idee der reinen Wahrnehmung ein. Unsere Praxis des Vajrayana basiert fest auf der Gewaltlosigkeit und der altruistischen Motivation von Bodhicitta, nimmt aber den Blickwinkel des Resultats ein. Wir behandeln jeden und alles als die Verkörperung des Erwachens. Wir verpflichten uns, uns selbst, andere und die Welt um uns herum als grundlegend rein, vollständig und perfekt anzusehen.
Das Ideal der reinen Sicht ist im Prinzip von samaya verkörpert, den formalen Verpflichtungen, die ein Praktizierender des Vajrayana wahren muss. Es gibt viele Einzelheiten bzgl. samaya, aber einfach ausgedrückt ist ihre Essenz, die reine Sicht nach besten Kräften zu praktizieren.
Viele Leute missverstehen die samaya und denken, es bezöge sich nur darauf, den Lehrer als Buddha, als vollständig erwachtes Wesen zu sehen. Auch das ist Teil von samaya, aber es geht am Wesentlichen vorbei. Samaya bedeutet, jeden und alles durch die Linse der reinen Sicht wahrzunehmen. Der einzige Grund, den Lehrer als Buddha zu sehen, besteht darin, die gleichen erleuchteten Qualitäten in uns selbst, in anderen und in unserer Umwelt erkennen zu können. Es ist ein Werkzeug, das uns helfen soll, Vertrauen in die Reinheit unserer eigenen endgültigen Natur zu entwickeln.
Die Praxis des Vajrayana wurzelt in den Idealen von Gewaltlosigkeit und Großem Mitgefühl. Ohne sie gibt es kein Vajrayana. Wie also wenden wir diese Prinzipien an, um uns bei wichtigen Themen zu helfen, wie einen authentischen Lehrer zu finden oder mit den unvermeidbaren Herausforderungen umzugehen, die mit dem Leben in einer Gemeinschaft einhergehen?

Das Wesentliche der Praxis

Der erste Punkt, dem ich mich zuwenden möchte, ist wahrscheinlich der offensichtlichste. Unsere Praxis sollte das besten unserer menschlichen Qualitäten zutage fördern. Sie sollte unsere innere Weisheit wecken, unsere grundlegende Vernunft und den moralischen Kompass, über den wir alle verfügen (ob wir ihm nun folgen oder nicht).
Die grundlegendste Art und Weise, den Erfolg unserer Praxis einzuschätzen, ist also, in welchem Maße wir uns den einfachen Idealen von Güte, Bescheidenheit, Ehrlichkeit und Weisheit annähern. Wenn wir – als Einzelpersonen oder als Gemeinschaft – feststellen, dass wir uns in die entgegengesetzte Richtung bewegen, stimmt etwas nicht. Niemand von uns wird sich in jeder Situation perfekt verhalten, aber mit der Zeit sollte es eine klare Entwicklung hin zu grundlegenden und allgemeingültigen menschlichen Werten geben.
Das gilt besonders für spirituelle Lehrer. Buddhistische Lehrer sind Vorbilder und Wegführer für die Gemeinschaften, denen sie vorstehen und sie repräsentieren die buddhistische Tradition gegenüber der nicht-buddhistischen Welt. Wenn wir als Schüler von Buddhas Lehren danach streben, freundlich, bescheiden und hingebungsvoll in unserer Praxis zu sein, macht es nur Sinn, dass unsere Wegführer diese Qualitäten auch verkörpern sollten. Sie sollten uns zu Güte und Hingabe inspirieren. Sie sollten sich durch die Hilfe und die Sorge, die sie für andere zeigen, als vertrauenswürdig erweisen. Wir sollten natürlich keine Perfektion erwarten, aber es versteht sich von selbst, dass Leute, die andere anleiten, auch das leben sollten, was sie lehren.

Einen authentischen Lehrer finden

Wenn es darum geht, einen authentischen Lehrer zu finden, sind vier Dinge von besonderer Bedeutung.
Das erste ist, dass der Lehrer einer authentischen Überlieferungslinie angehören sollte. Echte Lehrer machen nicht Werbung für sich selbst, sie setzen sich für ihre Überlieferungslinie ein. Wenn ein Lehrer mit seinen Qualitäten und Verwirklichungen angibt, wenn er aus seiner Praxis einen Show macht, dann ist das vermutlich ein Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmt. Aber wenn ein Lehrer unter der Anleitung anderer respektabler Lehrer studiert und praktiziert hat und ihre Überlieferung durch die Aufrechterhaltung ihrer Werte und Traditionen ehrt, dann ist das ein gutes Zeichen. Die Übertragungslinie allein macht noch keinen authentischen Lehrer, aber sie ist wichtig.
Die zweite Eigenschaft, nach der man Ausschau halten sollte, ist die Hingabe an Studium und Praxis. Das ist ziemlich offensichtlich. Sie würden auch keine Klavierstunden bei jemandem nehmen, der selbst nicht besonders gut spielt, oder? Natürlich nicht. Dasselbe gilt hier. Wenn man jemandem sein spirituelles Wohlergehen anvertraut, sollte man sicher sein, dass diese Person den Pfad aus erster Hand kennt. Dafür sollte sie klare Hingabe an die eigene Praxis und weitere Schulung haben.
Die dritte wesentliche Eigenschaft ist Mitgefühl. Als Schüler müssen wir darauf vertrauen können, dass unser Lehrer auf unserer Seite ist – dass wir ein Herzensanliegen für ihn sind und dass wir und unser Fortschritt auf dem Pfad von tiefster Wichtigkeit für ihn sind.
Vertrauen ist hier entscheidend. Ein authentischer Lehrer ist vertrauenswürdig und stellt die Bedürfnisse des Schüler an erste Stelle. Ein Zeichen dafür, dass ein Lehrer diese Eigenschaft hat, ist, dass sich Schüler in seiner Obhut sicher und beschützt fühlen. Sie wissen, dass ihr Lehrer immer für sie da sein und sie unterstützten wird, egal, was in ihrem Leben passiert.
Die vierte und letzte Eigenschaft ist diejenige, die sich direkt auf die Ethik bezieht. Ein authentischer Lehrer sollte seine Gelübde und Verhaltensregeln einhalten. In der tibetischen Tradition bedeutet das, dass er je nachdem die genommenen Ordinations- oder Laiengelübde einhält, die Bodhisattva-Gelübde des Mahayana wahrt und die samaya-Gelübde des Vajrayana einhält.
Das ist keine kleine Verpflichtung, aber es ist sehr wichtig. Es gibt hierin sehr viele Einzelheiten und als Schüler wissen wir vielleicht nicht genau, was für Gelübde eine Person hält. Aber wir können uns erkundigen und herausfinden, ob etwas am Verhalten oder Benehmen des Lehrers fragwürdig ist. Das ist ein guter Anfang.
Heutzutage ist es nicht einfach, einen vollkommenen Lehrer zu finden. Die Zeit des Buddha, in der es für Leute offenbar schon ausreichte, zu ihm zu kommen, um erleuchtet zu werden, ist lange vorbei. Vielleicht finden wir keinen Lehrer, der alle diese vier Eigenschaften vollständig verkörpert, aber er sollte über alle vier bis zu einem bestimmten Grad verfügen. Fehlt einem Lehrer eine oder mehrere dieser Eigenschaften vollständig, ist es vermutlich das beste, weiter zu suchen.

Den Lehrer verlassen

Diese vier Qualitäten sind eine gute allgemeine Richtlinie, wenn man nach einem Lehrer sucht. Aber selbst wenn wir unser bestes tun, um einen Lehrer vorab zu prüfen, lernen wir ihn doch oft erst richtig kennen, wenn wir schon sein Schüler sind. In der modernen Welt haben wir nicht ein Kloster oder einen buddhistischen Fachmann in jeder Straße. Wir kennen nicht notwendigerweise jede Einzelheit über einen Lehrer oder haben niemanden, den wir fragen können. Was tun wir also, wenn wir herausfinden, dass ein Lehrer nicht ganz so ist, wie wir es erhofft hatten?
Viele Schüler des tibetischen Buddhismus‘ glauben fälschlicherweise, dass sie einen Lehrer nicht verlassen können oder sollten, wenn sie sich ihm erst einmal verpflichtet haben. Das ist nicht der Fall. Der Dreh- und Angelpunkt der Lehrer-Schüler-Beziehung ist, dass sie zum Nutzen des Schülers sein sollte. Sie ist nicht für den Gewinn oder die Bereicherung des Lehrers da. Wenn man sein bestes versucht und festgestellt hat, dass es einfach nicht passt, kann man sich einen anderen Lehrer suchen. Das ist kein Problem oder persönliches Versagen. Es beweist gutes Urteilsvermögen.
Die beste Art und Weise zu gehen, ist ohne über den Lehrer zu schimpfen oder jenen Schwierigkeiten zu machen, denen der Lehrer und die Gemeinschaft nützlich ist. Gehen Sie im guten oder gehen Sie wenigstens nicht im Streit. Gehen Sie einfach bescheiden Ihren Weg weiter und fühlen Sie sich nicht schlecht, weil es nicht geklappt hat.
Den einzigen Vorbehalt, den ich hier anfügen würde ist, dass es wichtig ist, mit sich selbst ehrlich zu sein. Einen Lehrer oder eine Gemeinschaft zu verlassen, die nicht zu einem passen, ist verständlich, aber wenn Sie feststellen, dass sich jeder Lehrer als Ihrer Zeit unwürdig erweist, sollten Sie vielleicht einen genaueren Blick auf Ihre Verhaltensmuster werfen, um herauszufinden, was da vorgeht. Es könnte sich als schwierig erweisen, Fortschritte auf dem Pfad zu machen, wenn man nach Vollkommeneit sucht.

Ernste ethische Verstöße

Es ist aber etwas ganz anderes, wenn der Lehrer ernste ethische Verstöße begeht. Den Lehrer im Guten zu verlassen ist nur etwas, was Sinn macht, wenn es nur um die Frage geht, ob Lehrer und Schüler zusammenpassen. Wenn Menschen verletzt oder Gesetze gebrochen wurden, ist die Situation eine andere.
In diesem Fall müssen die ethischen Verfehlungen angesprochen werden. Egal, ob es zu körperlichem oder sexuellem Missbrauch gekommen ist, ob es finanzielle Unregelmäßigkeiten oder andere ethische Verfehlungen gegeben haben – es ist im besten Interesse der Schüler, der Gemeinschaft und letztendlich auch des Lehrers, wenn diese Probleme angesprochen werden. Wurde jemand geschädigt, hat die Sicherheit des Opfers absoluten Vorrang. Das ist keine buddhistische Regel. Das ist grundlegende Menschlichkeit und sollte niemals übergangen werden.
Die angemessene Reaktion richtet sich nach der Situation. In manchen Fällen, wenn der Lehrer sich unangemessen oder schädigend verhalten hat, sein Fehlverhalten aber bekannt und sich verpflichtet hat, dieses in Zukunft zu unterlassen, kann es angemessen sein, die Angelegenheit intern zu regeln. Gibt es aber ein langfristiges Muster ethischer Verfehlungen oder handelt es sich um extremen Missbrauch oder ist der Lehrer nicht gewillt, Verantwortung zu übernehmen, ist es angemessen, das Verhalten öffentlich zu machen.
Unter solchen Umständen ist es kein Bruch der samaya, diese schmerzlichen Informationen ans Licht zu bringen. Das zerstörerische Verhalten zu benennen ist ein notwendiger Schritt, jene zu beschützen, die geschädigt wurden oder die in Gefahr sind, in der Zukunft geschädigt zu werden und um das Wohlergehen der Gemeinschaft zu bewahren.

Verrückte Weisheit

Die Tradition des Vajrayana hat eine Geschichte von exzentrischen Yogis und Yoginis und Lehrern, die extreme Methoden nutzten, um ihre Schüler anzuleiten. Die Geschichte von Marpa, der von Milarepa verlangte, eine Reihe von Steintürmen zu errichten und dann wieder abzureißen, ist vielleicht das bekannteste Beispiel hiervon. Diese Tradition der „verrückten Weisheit“ kann echt sein, aber leider wird sie often benutzt, um unethisches Verhalten zu rechtfertigen, das nichts mit Weisheit und Mitgefühl zu tun hat.
Das Wichtigste, was man über diese ungewöhnlichen Lehrmethoden wissen muss, ist, dass sie zum Nutzen des Schülers sein sollen. Wenn sie nicht in Mitgefühl und Weisheit wurzeln, sind sie nicht authentisch. Handlungen, die auf Mitgefühl und Weisheit basieren – selbst wenn sie seltsam, exzentrisch oder sogar zornvoll erscheinen – rufen weder Angst noch Beklemmung hervor. Sie bringen Mitgefühl und Weisheit im Schüler zum Erblühen.
Anders ausgedrückt, die Auswirkungen echter „verrückter Weisheit“ sind immer positiv und sichtbar. Wenn ein Lehrer aus Mitgefühl eine extreme Lehrmethode nutzt, ist das Ergebnis spirituelles Wachstum, nicht Traumatisierung. Traumatisierung ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass dem Verhalten aus „verrückter Weisheit“ die Weisheit fehlte zu erkennen, was dem Schüler wirklich genützt hätte oder das Mitgefühl, das Wohl des Schülers an erste Stelle zu setzen, oder beides.
Es sollte angemerkt werden, dass diese extremen Lehrmethoden, die wir aus der Geschichte des Vajrayana kennen, vor dem Hintergrund einer sehr ausgereiften spirituellen Verbindung zwischen Lehrer und Schüler stattfanden. Sie waren alles andere als üblich. Marpa ließ nicht alle seine Schüler Steintürme errichten. Tatsächlich zeigte er anderen Schülern gegenüber ein ganz anderes Verhalten als Milarepa gegenüber. Aber er erkannte Milarepas Potential und welche Lehrmethode ihm am meisten nützen würde. Der Rest ist Geschichte. Milarepa wurde erleuchtet und einer von Tibets größten Meistern.
Diese extremen Lehrmethoden werden nicht nur bei sehr fortgeschrittenen Schülern angewandt und vor dem Hintergrund einer stabilen, auf Vertrauen und Hingabe begründeten Beziehung, sie sind auch die Ultima ratio. Es wird von vier Arten erleuchteter Aktivitäten gesprochen: friedvoll, anziehend, vermehrend und zornvoll. Zornvolle Aktivität wird nur bei jenen angewandt, die durch subtilere Methoden nicht erreichbar sind. Also nochmal, diese Art und Weise ist nicht die Norm, sondern etwas, das nur unter bestimmten Umständen angewandt wird.
Wir müssen also zwischen Lehrern unterscheiden, die zwar einerseits exzentrisch und provokativ, aber letztendlich mitfühlend und geschickt sind – und solchen, die ihren Schülern tatsächlich Schaden zufügen und traumatisieren. Dies sind zwei sehr verschiedene Dinge und es ist wichtig, sie nicht zusammen zu werfen. Es gibt viele Lehrer, die ihre Schüler anschubsen und provozieren, um ihnen zu helfen, mehr über ihren Geist zu lernen, aber das ist kein Missbrauch. Körperlicher, sexueller oder psychologischer Missbrauch sind keine Lehrmethoden.

Vajrayana in der modernen Welt

In dieser so vernetzten Welt, ist Ethik wichtiger als je zuvor. Auf gewisse Weise repräsentieren wir alle als Schüler des Buddha seine Lehren in der Welt. Jeder kann über diesen Lehrer oder jene Sangha durch wenige Mausklicks oder eine Google-Suche etwas erfahren. Das es gut, weil es die ganze Tradition transparenter macht. Ethisches Verhalten – oder Fehl-Verhalten – ist sichtbarer als früher.
Es sollte selbstverständlich sein, dass wenn von Schulen, Unternehmen und öfffentliche Einrichtungen erwartet wird, sich gemäß eines ethischen Kodex‘ und der Gesetze eines Landes zu verhalten, spirituelle Organisationen vorbildlich in ihrem ethischen Verhalten sein sollten. Die Lehrer sogar noch mehr. Durch die ganze Geschichte war genau das eine der wichtigsten Rollen für buddhischte Lehrer und die buddhistische Sangha. Sie vermittelten durch ihr Vorbild das ethische Verhalten genau den Gemeinden, denen sie dienten.
Der Vajrayana-Buddhismus gilt Tibetern als kostbarer Schatz. Er ist unser spirituelles Erbe und unser Geschenk an die Welt. Nun, da sich die Lehren und Praktiken dieser Tradition über die ganze Welt verbreiten, ist es wichtig, diese Tradition und ihre machtvollen Lehren zu verstehen.
Wie schon gesagt, ist der Kern der Vajrayana-Tradition, die reine Sicht zu verkörpern. Wir betrachten unsere Gedanken und Emotionen – sogar die schwierigen – als Manifestationen des zeitlosen Gewahrseins. Wir sehen jede Person als Buddha und wir behandeln sie auch so. Wir sehen die Welt, in der wir leben, als reinen Bereich, erleuchtet, so wie sie ist.
Die Tradition, jeden und alles so zu behandeln, als würden wir dem Buddha von Angesicht zu Angesicht begegnen, ist die Hauptpraxis des Vajrayana. Sie ist das Herzblut unserer Tradition und der höchste ethische Standard, den man anstreben kann. In diesen Tagen und in dieser Zeit, in der wir von Verwirrung und Streit umgeben sind, braucht die Welt dies mehr als je zuvor.

Rinpoche Yongey Mingyur

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