1000 Hände – gelebte Verbundenheit
Nach dem ersten Schock des Lockdowns, der in Österreich durch die Regierung sehr dramatisch inszensiert wurde, wurde mir in meiner Arbeit als Zen-Priester und Seelsorger, aber auch als Unternehmer sehr schnell vor Augen geführt, welche weitreichenden Auswirkungen, welches Leid das alles haben wird. Ich hörte Geschichten über tiefliegende Wunden, Ängste und pure Verzweiflung: von einem zehnjähriges Mädchen, das Panikattacken bekam bei dem Gedanken, sie könne aus Versehen ihre Großeltern anstecken und damit ihren Tod verantworten; von einem Geschäftsmann, der sich am zweiten Tag nach der Wiedereröffnung in seinem Geschäft erhängte – aus Angst, dass keine Kunden kommen, aber auch aus Angst, sich anzustecken; von einer 92-jährigen Dame, die auf dem Transportweg zwischen zwei Krankenhäusern – ins erste durfte sie nicht eingeliefert werden, da kein Covid-19 Test vorlag – einen weiteren Herzstillstand erlitt, von ihrer Tochter aber nicht begleitet werden durfte …
Dies sind dramatische Einzelschicksale, doch auf subtilere Art wirkt sich der Lockdown auf uns alle aus und wird sich weiterhin auswirken. Durch das Social Distancing und die Virtualisierung wurde auch schnell klar, wie sich all das auf unser Miteinander auswirkt und es aus den Fugen hebt. Es offenbarte sich eine Richtung, die schon lang spürbar war: die Entkörperung unserer Welt. Sie ist bereits viel weiter fortgeschritten, als ich erahnen konnte, die Bruchlinien wurden und werden zu großen Schluchten.
Im März letzten Jahres wurde ich in Bloomington, Indiana, USA von Hoko Karnegis in der Linie von Okumura Roshi zum Soto-Zen-Priester ordiniert. Als der Lockdown begann, haben wir für unsere kleine frische Sangha in Wien schnell ein virtuelles Netz aufgespannt, mit einen Dialograum, der sich als sehr hilfreich für diese Zeit herausgestellt hat, um gemeinsam unsere Ängste, die Wut, unsere Einsamkeit und noch vieles mehr aufzufangen. Es wurde schnell sichtbar, dass es dringender denn je eine Wiedereröffnung der Herzen braucht und dazu können unsere Bodhisattva-Gelübde einen wichtigen Beitrag leisten. Mit unserer Übung zur Befreiung unseres Herzens, mit Hilfe eines großherzigen, fürsorglichen und elterlichen Geistes, von dem unsere Vorfahren, von Uchiyama Roshi bis hin zu Dogen Zenji, sprachen, zum Wohle aller Wesen tätig werden.
Ich bin als buddhistischer Seelsorger in Gefängnissen und einer Obdachloseneinrichtung tätig und teile meine Praxis. Diese Welt zu einem besseren Ort zu machen scheint eine unmögliche Aufgabe zu sein, aber die Möglichkeit dazu besteht in jedem Moment. In jeder kleinen Handlung, die wir setzen, können wir einen Samen für die Heilung miteinsetzen, Moment für Moment, Augenblick für Augenblick. Ich träume schon lange davon, dies auszuweiten und in einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu bringen. Was mich, was uns als Gemeinschaft nährt, ist eine wichtige Frage in meiner Praxis und dazu gehört auch, wie wir uns ernähren. Ich liebe Kochen und Backen und möchte mit dieser handwerklichen Arbeit Menschen unterstützen. Praktizierende wie Bernie Glassman, aber auch Mitglieder anderer Religionen, wie zum Beispiel Pater Gregory Boyle, haben diese Idee in mir gestärkt, aber letztendlich war es Rev. Kalen McAllister aus St. Luis, eine Zen-Priesterin, die ich letztes Jahr in ihrer „Laughing Bear Bakery“ besuchen durfte, die mich inspirierte, auf ähnliche Weise meine Praxis im Alltag umzusetzen. Sie bäckt gemeinsam mit ehemaligen Häftlingen Kuchen, Kekse und Muffins und vertreibt diese über kleine, lokale Geschäfte. Zurück in Wien gab mir meine Dharma Schwester Susanne Halbeisen den Raum, um die Idee in ein Konzept zu gießen, und führt das Projekt seitdem mit mir gemeinsam. Durch die Corona-Krise wurde mir noch klarer, wie wichtig der Fokus auf dieses Teilen unserer Praxis und ihrer Früchte in einem größeren gesellschaftlichen Kontext ist. Wir haben ihm den Namen „1000 Hände“ gegeben, eine Anlehnung an den Bodhisattva des Mitgefühls, Avalokiteshvara, der in der buddhistischen Ikonographie oft mit 1000 Armen dargestellt wird. So ist es ihm möglich, allen Wesen gleichzeitig zu helfen, wo sie auch sein mögen. Für uns symbolisiert dieses Bild der 1000 Arme auch, dass wir nicht allein existieren und alle miteinander unumgänglich in Verbindung stehen.
Unser Projekt: „1000 Hände – gelebte Verbundenheit“
1000 Hände ist ein Angebot für Menschen, die am Arbeitsmarkt wenige Chancen auf eine Beschäftigung haben, wie zum Beispiel ehemalige Gefängnisinsassen, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose, psychisch Kranke, Drogen- und Alkoholabhängige nach einem Entzug.
Über einfache handwerkliche Arbeit wird ein Einstieg in eine alltägliche Struktur ermöglicht. Wir alle wissen, dass dieser Rahmen als Anker, als Halt in unserem Leben notwendig ist. Das Tun mit unseren eigenen Händen, die verkörperte Erfahrung dieses Tuns, spielt dabei eine entscheidende Rolle. In unserem Fall wird dies das Zubereiten von Backwaren und Lebensmitteln, in weiterer Folge von Brot und ähnlichem sein. Diese Tätigkeit benötigt anfangs wenige Vorkenntnisse und ist einfach zu erlernen. Es geht dabei im erweiterten Sinn auch um die Frage, was uns ernährt und was unseren Geist nährt!
Begleitet wird dieser Prozess der Eingliederung bzw. Wiedereingliederung in einen strukturierten Alltag durch die Beschäftigung von ehrenamtlich tätigen Mitmenschen, die das Teilen ihrer seelsorgerischen kontemplativen Praxis vertiefen wollen. Jeder ist willkommen und wertvoll.
Es geht darum, einen Raum für kontemplative, spirituelle Fürsorge zu schaffen, einen Raum, in dem jeder so gesehen werden kann wie er ist, ohne Bewertung und Vorverurteilung. Dieser Raum ist die Basis, Veränderung sichtbar zu machen.
Um die Realisierung des Projekts so einfach wie möglich zu gestalten, wird in der ersten Phase in einer angemieteten Gastroküche gearbeitet. Wir werden als Großhändler Lebensmittel für Gastronomie und Handel herstellen, diese auch per Onlineshop direkt verkaufen. Anfangs werden verschiedene internationale Backwaren und andere Lebensmittel in hoher Bioqualität produziert und an Handelspartner, beispielsweise Reformhäuser, Gastronomiebetriebe, etwa kleine Cafés, sowie online direkt verkauft.
In weiteren Schritten ist eine Dialogplattform, ein eigenes Zentrum mit Wohnmöglichkeiten, einer Bäckerei und einem Café sowie einer integrierten Ausbildung für kontemplative Seelsorger geplant.
Der Grundpfeiler für diese Arbeit, das ist unsere Erfahrung, kann nur eine persönlich entwickelte kontemplative Praxis sein, ein ständiges In-Sich-Selbst-Schauen und sich um sich selbst kümmern. Wir teilen die Welt nicht ein in die Bedürftigen, die Hilfe brauchen und die Guten, die Anderen helfen, sondern wir teilen unsere Erfahrung aus unserer gemeinsamen Praxis im gemeinsamen Handeln. Unsere Praxis besteht zum größten Teil aus Zazen und der Übung, unser Leben aus diesem Zazen-Geist heraus zu gestalten.
Unser Ziel ist es, einen Ort zu schaffen, an dem wir diese Praxis des gemeinsamen allumfassenden Lebens, sprich arbeiten, praktizieren, essen, trinken, kochen, putzen, feiern, einfach das ganze Leben umsetzen können. In unserer so fragmentierten Welt braucht es diese 1000nde von Händen, die wir uns gegenseitig reichen. Es geht uns nicht um persönliche Bereicherung, sondern um den Nutzen für die Gemeinschaft, wir streben Gemeinnützigkeit an. 1000ende von Händen sollen dies unterstützen.
Das ausführliche Konzept steht auf unserer Sangha Homepage zum Download bereit und in Kürze gibt es auch eine eigenen Homepage für 1000 Hände. Hier geht’s zum Download des Konzeptes.
Wir freuen uns über jede Form der Zusammenarbeit, Feedback und Kommentare unter:
Mehr Infos von uns gibt es unter : www.daijihi.org
Shinko Andreas Hagn, Wien
7. Juli 2020