Der Weg zur inneren Weisheit – Gedanken zum Lehrer-Schüler-Verhältnis im Dharma

DBU Diskurs   >   Thema: Buddhismus & Ethik in der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden

„Das Lehrer-Schüler-Verhältnis benötigt ein schützendes Feld von gegenseitigem Vertrauen, Offenheit sowie eine klare Ethik und günstige Rahmenbedingungen“ – ein Beitrag von Lisa Freund zum Thema Ethik in der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden im Buddhismus.

Jeder, der in unserer postmodernen, wissenschaftsgeprägten, materialistisch orientierten Leistungsgesellschaft einen spirituellen Weg geht, tut das innerhalb dieser Gesellschaft. Jede von uns bringt ihre eigene Biografie mit. Diese enthält individuelle Prägungen, die typisch sind, für die Generation, der wir angehören. Wir tragen die Spuren der Welt in uns, in der wir erzogen wurden.

Auf dem buddhistischen Weg begegnen wir nun der Kraft der jahrtausendealten Lehre des Buddhas. Wir hören Belehrungen von asiatischen Lehrern, die aus ganz anderen sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Traditionen zu uns kommen und folgen ihren Anweisungen. Wir studieren die Schriften, üben Meditation und versuchen, eine für uns stimmige Praxis zu entfalten.

Oft übernehmen wir in unseren Dharma-Organisationen unhinterfragt Strukturen und Umgangsformen, die in Asien, z. B. Tibet, entwickeln wurden und hierarchisch, autoritär und patriarchalisch geprägt sind. Wir übernehmen sie, obwohl wir hier im Westen der Agrargesellschaft mit ihrer Ständeordnung schon seit Jahrhunderten entwachsen sind. Die spirituellen Lehrer sind nicht nur unsere Vorbilder, sondern wir überhöhen sie zu Übervätern/-müttern, machen sie zu Idolen, auf die wir all unsere Hoffnungen und Wünsche projizieren. So müssen wir nicht selbst die Verantwortung übernehmen. Wir stehen noch ganz am Anfang, einen mittleren Weg im Umgang mit dem Dharma und den Lehrern zu entwickeln, einen Weg, der zu uns und in unsere Kultur passt und eine moderne Interpretation der Lehren beinhaltet. Dazu benötigen wir die freie Diskussion, das gemeinsame Suchen nach Problemlösungen. Der Reichtum der buddhistischen Lehren ist es wert, einen offenen Umgang auch mit heiklen Themen zu wagen, z. B. das Lehrer-Schüler-Verhältnis betreffend.

Ich halte es, auch aus meinen eigenen Erfahrungen heraus, für wichtig, dass am Dharma Interessierte Kriterien für die Auswahl eines Lehrers an die Hand bekommen. Wir sollten auch wissen, wie Projektionen funktionieren und eigene neurotische Muster aktiviert werden oder ein Autoritätsmissbrauch stattfindet und wie wir uns davor schützen können. Wir brauchen Ansprechpartner, die uns in einer Krise mit einem Lehrer ernsthaft zuhören und respektieren sowie angemessene Formen der Konfliktklärung und Poblemlösungsstrategien.

Buddhas Worte zur Überprüfung des Lehrers

Das Lehrer-Schüler-Verhältnis benötigt ein schützendes Feld von gegenseitigem Vertrauen, Offenheit sowie eine klare Ethik und günstige Rahmenbedingungen. Der Buddha gibt dazu zahlreiche Hinweise, z. B. in einer Lehrrede, in der Mönche ihn fragen, wie man herausfinden könne, ob ein Lehrer vollständig erwacht sei. Der Buddha antwortet, man solle die Geisteszustände des Lehrers mit Hilfe der eigenen Augen und der Ohren überprüfen. „Am Tathagata sind weder durch das Auge noch durch das Ohr Zustände wahrzunehmen, die auf verunreinigte Geisteszustände hinweisen.“ (MN 47: Vimamsaka Sutta, 4-5) Weiter sagt der Buddha: „Der Ehrwürdige ist selbstbeherrscht, ohne Angst, ist nicht von Angst beherrscht, und er vermeidet das Schwelgen in Sinnesvergnügen, weil er aufgrund der Vernichtung der Begierde frei von Begierde ist.“ (MN 47: Vimamsaka Sutta, 9) Und ein Mönch erläutert: „Weil der Erhabene mich den Dhamma auf solche Weise lehrte, kam ich in eben diesem Dhamma durch direkte Einsicht in eine bestimmte Lehre zu einem Schluss über die Lehre.“(MN 47: Vimamsaka Sutta, 15) Ein Lehrer oder aber die Lehre des Buddha selbst initiiert im Schüler Erkenntnisprozesse, die auf direkter Einsicht beruhen. Der Schüler reflektiert und kommt zu eigenen Schlussfolgerungen.

Eigenverantwortlichkeit zählt

Wir können den Lehrer prüfen, annehmen und dazu autorisieren, uns auf dem spirituellen Weg zu begleiten. Den Weg gehen müssen wir selbst. Dzogchen Ponlop Rinpoche vergleicht in seinem Buch Der große Augenblick den Lehrer mit einem Wecker: „Normalerweise ist unser Guru, unser spiritueller Freund, der uns auf dem buddhistischen Pfad leitet. Da dies so ist, haben wir immer das Gefühl, einen Bezugspunkt zu haben und gesegnet zu sein. Das ist aber nicht so zu verstehen, als hätte unser Lehrer völlige Macht über uns. Ein Lehrer kann uns nicht aus Samsara befreien. Der Lehrer auf der Sutrayana-Stufe ist mit einem Wecker vergleichbar. Man muss sich anstrengen, um an einen solchen Wecker heranzukommen und den Alarm für den richtigen Zeitpunkt aktivieren. Wenn der Wecker dann am Morgen klingelt, hat man die Wahl aufzustehen oder weiterzuschlafen. Es liegt in der eigenen Verantwortung, ob man die Schlummertaste drückt oder aufsteht. Die Einstellung zum Lehrer sollte möglichst ausgewogen sein. Ein Lehrer oder spiritueller Freund ist auf dem Pfad sehr wichtig, er ist aber nicht Gott. Man muss sich also selbst anstrengen.“

Lehrerrolle im tantrischen Buddhismus (Vajrayana)

Tantrische Lehren, die etwa 1300 Jahre nach Buddhas Tod vor allem in Tibet Eingang in die buddhistischen Lehren fanden, vermitteln ein ganz anderes Lehrer-Schüler-Verhältnis. Der Lehrer wird zum Guru, dem der Schüler sich vollständig unterordnet. Der Buddha selbst spricht nicht von Guru, stattdessen betont er, dass der Schüler seinen inneren Weg mit Hilfe des Lehrers selbstständig gehen soll.

Das Verhältnis zum Lehrer, den man als Guru visualisiert, ist vergleichbar mit der Beziehung eines Arztes zu einem Patienten, der verzweifelt um Heilung einer lebensbedrohlichen Erkrankung bittet. Im Idealfall ist der Guru erleuchtet. Die Handlungen des Meisters, seine Unterweisungen, dienen dazu, den Schüler in die Natur des Geistes einzuführen, was manchmal wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel geschieht. Das kann geschehen, indem der Geist des Schülers mit dem Weisheitsgeist verschmilzt, in dem der Lehrer ruht. Der Lehrer ist in diesem Fall die Brücke zum Weisheitsgeist. In diesem Übertragungsprozess, in dem man eins wird mit dem Weisheitsgeist, verbindet man sich nicht mit der Persönlichkeit des Lehrers oder seinen Fehlern, sondern mit dem was dahinter liegt, dem Feld reiner Wahrnehmung, der Buddhanatur, die zugleich die Natur von allem ist. Deshalb gibt es die Anweisung, menschliche Schwächen, die man am Meister entdeckt, zu ignorieren. Die Aufmerksamkeit auf Fehler des Meisters zu fixieren, fördert die Unreinheit der eigenen Wahrnehmung, da sie Wertungen, verbunden mit Anhaftung und Abneigung provoziert. Die reine Wahrnehmung ist nicht dualistisch nicht wertend, allumfassend.

„Das Tantra vertritt eindeutig die Auffassung, dass der Geist König ist, dass die innere Haltung ausschlaggebend ist. Betrachten wir den Guru als Durchschnittsmenschen, dann werden wir die Segnungen eines Durchschnittsmenschen erhalten. Wenn wir ihn aber als Buddha ansehen, dann wird er für uns als Buddha handeln und unsere Beziehung zu ihm wird rasch zur Erleuchtung führen.“ (Vessantara)

Die Hingabe an den Guru wird manifestiert in einem Bündnis, das Samaya genannt wird und mindestens so bindend ist wie das Bündnis zwischen dem Meditierenden und der Buddha- oder Bodhisattvafigur, die er visualisiert. Der Meditierende gliedert sich ein in die Übertragungslinie des Guru und erhält ihren Segen.

„In den Mahamudra-Belehrungen heißt es,  dass das Mitgefühl des Guru und der Buddhas gleich seien – es gibt da keinen Unterschied … Je intensiver die Sonne der Hingabe erstrahlt, desto stärker fließt der Segensstrom. … Hingabe ist der Pfad, und Hingabe ist zugleich die Verwirklichung. Hingabe ist Erfahrung, und Hingabe ist das Ergebnis.“ (Dzogchen Pönlop).

Hingabe basiert im Wesentlichen auf dem unerschütterliche Glauben an das eigene erleuchtete Herz. Aus diesem Raum heraus richtet man sein Bewusstsein vollkommen auf den Geist des Guru aus. Es kommt zu einer Geist-zu-Geist-Verbindung oder einen Übertragungsprozess. Die Persönlichkeitsmerkmale des Lehrers sind dabei unwesentlich. Was sich auflöst, ist die dualistische Wahrnehmung, und was zählt, ist die Übertragung des Weisheitsgeistes.

In diesem Prozess können enorme psychische Kräfte aktiviert werden. Ein Lehrer, der im Weisheitsgeist ruht, kann den inneren Schatten und Dämonen der Schüler entgegentreten, sie unterwerfen oder transformieren und so die Tür zur Natur des Geistes öffnen. Damit einher gehen tiefgreifende innere Erfahrungen. Das ist kein Spaziergang. Dies sollte man im Auge haben und therapeutische Hilfe suchen, wenn Neurosen oder Ängste aktiviert werden, die den Schüler zu überschwemmen drohen. Sie blockieren den Zugang zur Buddahanatur, liegen wie ein dunkle Wolke darüber.

Es gibt Lehrer, die die Essenz der Lehren durch reine Präsenz ausstrahlen. Sie können aus einem Telefonbuch vorlesen oder einfach schweigen und doch dabei den Weisheitsgeist übertragen, wenn der Schüler dazu bereit ist.

Bei der Geist-zu-Geist-Übertragung kommt es leicht zu Missverständnissen, nicht zuletzt, weil wir gerne mit unserer neurotischen Seite am Lehrer andocken, und zwar mit unseren Sehnsüchten und Projektionen. Ethisches Verhalten auf beiden Seiten, der Schüler- und Lehrerseite, ist hierbei von Bedeutung.  Das heißt auch, dass man sich an Regeln, Konventionen hält. Der Dalai Lama sagt dazu:

„Historisch war es so, dass einige buddhistische Heilige, obwohl sie sich auf seltsame Weise ethisch verhalten haben, voll realisierte Wesen waren und wussten, was auf lange Sicht dem Wohle anderer diente. Aber heute ist solches Verhalten schädlich für den Dharma und muss gestoppt werden. Obgleich die eigenen Verwirklichungen denen jener göttlichen Wesen gleichen mag, muss das Verhalten den Konventionen entsprechen. Wenn jemand sagt, dass jedes Verhalten akzeptabel sei, da jeder die Buddhanatur besitze, oder dass Lehrerinnen und Lehrer moralischen Vorschriften nicht zu folgen brauchten, zeigt dies, dass sie die Leerheit oder Ursache und Wirkung nicht korrekt begreifen.“

Meine eigene Suche

Auf der Suche nach Befreiung und einem spirituellen Lehrer, der mich durch das Labyrinth meiner alltäglichen Verwirrung führt, stieß ich in den 80 er Jahren auf Buddhas Lehre im tibetischen Gewand. Ich suchte nach einem lebenden Buddha, ruhend im Erleuchtungsgeist. Er sollte ethisch vollkommen sein und zugleich ein spiritueller Freund und Wegbegleiter. Mein Buddha sollte mich dort abholen, wo ich stehe, an die Hand nehmen, meinem störrischen Ego die rote Karte zeigen. So erblühte auf dem Boden meines sehnsüchtigen Verlangens nach Erleuchtung in meinem Geist die Projektion des idealen Meisters.

Als ich einen Lehrer treffe, für den mein Herz entflammt, projiziere ich auf ihn meine Hoffnungen und Wünsche. Ich übergebe ihm die Verantwortung für meinen spirituellen Weg; entscheide, zu tun, was er sagt, um schnell erleuchtet zu werden. Das halte ich für Demut. Ich rezitiere tibetische Texte und vollziehe Rituale, die ich nicht verstehe, folge seinen Anweisungen oder rebelliere gegen ihn wie ein Kind gegen die Eltern aufbegehrt. Mal ist er der böse Vater, dann wieder die alles verzeihende Mutter oder der einzige, der mich wirklich liebt. Kein Partner hat eine Chance ihm gegen über. Mal bin ich eifersüchtig auf alle, die ihm nahe sind, dann wieder voller Kritik an seinem Verhalten oder ich liebe ihn dafür, dass er großartige Visionen hat.

So gerate ich in kuriose und vielschichtige Übertragungsprozesse. Und die Lehren? Sie sind mir wichtig, doch mehr Raum greift das innere Hin und Her mit dem Lehrer. Meine Projektionen auf den Lehrer lösen immer wieder emotionalen Aufruhr in mir aus. Ich erlebe die Erschütterung von antrainierten Verhaltensweisen und den Zerfall meiner Selbstbilder, also Persönlichkeitskrisen – ein emotional-spirituelles Knäul, das nur schwer zu entwirren ist.

Anders ist es, wenn ich für einen Moment in die Natur des Geistes eintauche. Dann wird alles still; Raum und Zeit lösen sich auf. Als Schülerin eines tantrischen Meisters bin ich in eine spirituelle Übertragung hineingewachsen, als ich mich mit dem Weisheitsgeist meines Meisters verbunden habe. Mein Lehrer wird in diesem Prozess zum Mittler zwischen Buddhas Lehre und meiner Buddhanatur. Unwichtig sind dabei seine Persönlichkeit oder sein Charakter, was zählt ist seine spirituelle Kompetenz. Wenn sich mein Geist für einen Moment öffnet, ist das ein Prozess, in dem mein Lehrer und ich keine Rolle mehr spielen. Beide lösen sich auf. So gelange ich von der persönlichen zu einer überpersönlichen Ebene, die über das Therapeutische hinaus geht und den Weg in die Befreiung vom Leiden weist. Dieser Prozess ist eine individuelle und zugleich universelle Erfahrung.

Die fatale Verwechslung von Hingabe mit Symbiose

Es ist Hingabe, basierend auf tiefem Vertrauen, die mich im oben beschriebenen Prozess trägt. Wo liegen die Grenzen zwischen der Hingabe an den Meister und der Aufgabe jeder Selbstverantwortung? Basierend auf der Erziehung und Gewohnheiten neigen viele Dharmaschüler dazu, den Guru als Partnerersatz, Ersatzvater oder –mutter zu sehen. So wird die Eigenverantwortung delegiert an den Lehrer, der eine Stellvertreterrolle bekommt und zusätzlich auf das Podest eines Heiligen gestellt wird. Man möchte, dass der Guru unfehlbar ist, anders als normale Eltern oder Partner, auch wenn es bei ihm ordentlich menschelt. Tatsächlich ist er vollkommen in seinem Wesen. Das gilt jedoch auch für den Schüler. Denn unsere wahre Natur ist nicht die Persönlichkeit, das Ego, sondern die Buddhanatur, die allen fühlenden Wesen innewohnt. Dennoch sind wir als Menschen, geplagt von Anhaftung und Abneigung, den Geistegiften und daher auf der samsarischen Ebene alles andere als vollkommen. Das gilt eben auch für einen Lehrer, der noch nicht vollständig im Weisheitsgeist ruht.

Körperlich, geistig oder seelisch missbrauchte Dharma-Schülerinnen rechtfertigen sich oft damit, dass der Lehrer ja zu ihnen gesagt habe, es sei ein Privileg, das zu tun, was er ihnen vorschreibe, beispielsweise Intimverkehr zu haben. Der Lehrer gibt vor, aus dem Weisheitsgeist heraus zu handeln. Das beschleunige die Befreiung des Egos und so werde die Schülerin schneller aus dem Kreislauf von Samsara befreit werden. Ja, wer soll beurteilen, was stimmt? Welche Maßstäbe soll die Schülerin anlegen? Sie hat Hingabe an den Lehrer entwickelt – nun wird diese eingefordert auf eine ganz praktische Art und Weise? Was ist richtig? Was ist falsch? Dazu sagt der Buddha einiges, der Dalai Lama aktualisiert es.

Profane Sexualität, die der akuten Bedürfnisbefriedigung dient, die letztlich ein Ausdruck von Begehren ist, das man ja gerade überwinden will, kann so zu einer privilegierten und bewusstseinserweiternden Handlung uminterpretiert werden. Die Schülerin erlebt eine Bewusstseinstrübung, da ihr Glaube und die Sehnsucht nach einer Verbindung mit dem Weisheitsgeist, sie blind macht für alles, was der Lehrer einfordert, z.B. Dienstleistungen, finanzielle Vorteile, Sexualität. Ein Lehrer, der von Gier beherrscht wird, hat ebenfalls eine Wahrnehmungsstörung. Das heißt beide leiden und tragen die Konsequenzen ihrer Handlungen. Eine Frage steht für mich noch im Raum: Wie steht es mit der Motivation aus der heraus der Lehrer und die Schülerin handeln? Was ist wenn beide es in ihrer Verblendung aufrichtig miteinander meinen?  Dalai Lama sagt 1993 dazu:

„Auf der Ebene unserer persönlichen spirituellen Praxis ist es wichtig, für unseren Guru Vertrauen und Ehrfurcht zu haben und ihn in einem positiven Licht zu sehen, um spirituellen Fortschritt zu erreichen. Aber auf der Ebene des Buddhismus und allgemein in der Gesellschaft ist es Gift, alle Handlungen einer Lehrerin oder eines Lehrers als perfekt anzusehen, das kann missbraucht werden. Diese Haltung verdirbt unsere gesamte Lehre, indem sie den Lehrern freie Hand gibt, sich unangemessene Vorteile zu verschaffen.“

In diesem Sinne benötigt der Schüler/die Schülerin einfach eine Portion gesunden Menschenverstand, wenn ein Fehlverhalten des Lehrers ansteht.

Wenn DharmaschülerInnen Hingabe lernen, benötigen sie einen geschützten Raum von Wertschätzung und Geborgenheit, in dem man sich in Würde begegnet. Wer mit dem eigenen spirituellen Lehrer Sexualität praktiziert, solange der Übertragungsprozess wirkt, kommt in eine Schräglage. Dies gilt auch, wenn die Schülerin oder der Schüler, sich nichts anderes wünscht als eine erotische Beziehung zum Lehrer und diese womöglich provoziert. Es gibt keine Augenhöhe in dieser Begegnung; es sei denn beide hätten eine reine Wahrnehmung. Der Schutzraum, den die Schülerin zur Entfaltung ihrer Buddhanatur benötigt, wird in der Regel aufgehoben, auch wenn das Gegenteil behauptet wird, weil die Rahmenbedingungen für eine gleichberechtigte Beziehung nicht da sind. Wissen sollte das nicht nur der Lehrer, die Lehrerin. Wer den folgenden Rat des Dalai Lama beherzigt, kann vermeiden in die Abhängigkeitsfalle zu tappen. Für mich hat das viel mit Zivilcourage auf Dharma-Niveau zu tun.

„So wie es drei Wege gibt, sich auf einen Guru zu beziehen, gibt es drei Möglichkeiten, auf ihre oder seine Anweisungen zu reagieren, wenn sie dem Dharma widersprechen. Nach dem Vinaya sollten Sie, wenn ein Lehrer Ihnen eine nicht dem Dharma entsprechende Handlung aufträgt, seinen Rat ablehnen. Nach dem Paramitayana (dem Bodhisattva-Fahrzeug) sollten Sie einer Anweisung folgen, wenn sie mit dem buddhistischen Weg übereinstimmt. Nach dem Vajrayana (oder Tantrayana) sollte ein Schüler, wenn ein Guru eine Anweisung gibt, die nicht mit dem Dharma übereinstimmt, dieser nicht folgen und zum Lehrer gehen, um zu klären und zu erläutern, warum er dieser Anweisung nicht folgen kann. Dieser Rat kommt direkt vom Buddha und findet sich in den heiligen Schriften. Das gleiche gilt, wenn Sie der Auffassung sind, der Rat Ihres Lehrers sei unklug oder unweise, selbst wenn er den ethischen Maßstäben entspricht. Die Reinheit der Motivation des Lehrers reicht nicht aus: Seine Anleitung muss auch der Situation und der Kultur des Ortes gemäß sein.“

Nährt nicht jede Person, die eine Symbiose fälschlicherweise für unbefangene Hingabe hält, die Macht bzw. Autorität falscher Gurus? Entstehen so nicht unsäglichen Täter-Opfer-Szenarien führen, die kontraproduktiv auf dem Weg zur Befreiung vom Leiden sind?  Die traurigen und erschütternden Handlungen von buddhistischen und anderen spirituellen Lehrern, die bisher an die Öffentlichkeit gekommen sind, weil sie gegen geltendes Recht verstoßen haben, offenbaren eine Misere. Von Seiten des Lehrers geht es um Machtmissbrauch. Unterschiedlichen Berichten von SchülerInnen, die einmal die Geliebten ihres Lehrers waren, ist zu entnehmen, dass sie jahrelang daran knapsen, diese Erfahrungen zu verarbeiten. Sie erkannten, dass die sogenannte Freiwilligkeit bei sexuellen Handlungen auf einem Autoritätsverhältnis gründete, das in Wirklichkeit eine Abhängigkeitsbeziehung war.

Dennoch, bei aller Kritik sollte eine mitfühlende Haltung sowohl den Lehrern, die so unnötiges Leiden schaffen, als auch den Schülern, die es erleben, unsere Grundhaltung sein. Es geht darum, Fehler einzusehen und Verhalten zu ändern, wieder gut zu machen, was an Schaden entstanden ist, um Einsicht und Versöhnung und vor allem um Ehrlichkeit. Konstruktive Kritik steht am Anfang dieser Entwicklung. Noch einmal der Dalai Lama hierzu:

„Wenn man die Lehren klar präsentiert, ist dies zum Wohle anderer. Aber wenn jemand den Dharma lehren soll und sein Verhalten ist schädlich, ist es unsere Verantwortung, dies mit einer guten Motivation zu kritisieren. Das ist konstruktive Kritik, und man braucht sich dabei nicht unwohl zu fühlen. In „Die zwanzig Verse über das Bodhisattva-Gelübde“ heißt es, dass Handlungen gleich welcher Art frei von Schuld bleiben, die Sie mit einer reinen Motivation ausüben. Buddhistische Lehrer, die Sex, Macht, Geld, Alkohol oder Drogen missbrauchen, und die ihr Verhalten nicht korrigieren, wenn ihre eigenen Schülerinnen und Schüler sie mit legitimen Beschwerden konfrontieren, sollten offen und namentlich kritisiert werden. Das kann sie beschämen und veranlassen, ihr missbräuchliches Verhalten zu bedauern und zu beenden. Das Negative herauszustellen schafft Raum dafür, dass die positive Seite zunimmt. Wenn man ein solches Fehlverhalten veröffentlicht, sollte klargestellt werden, dass solche Lehrer den Rat des Buddhas nicht beachtet haben. Allerdings ist es nur fair, auch deren gute Qualitäten zu erwähnen …“

Fazit

Es ist wichtig bei allen Vorwürfen, die Motivation des Lehrers und auch der Schülerin zu überprüfen. Darüber können Einsichten gewonnen werden, der Lehrer kann sein Verhalten bereuen und es beenden. Dann kann man nach Wegen der Heilung für die Betroffenen und die Gemeinschaft suchen.

Die Symbiose eines Schülers mit einem Lehrer – egal in welcher Form – ist ein großes Hindernis auf dem spirituellen Weg ebenso wie deren Kehrseite: ständiger Zweifel, der zur Zurückweisung des Lehrers und der Lehren führt.

Echte Hingabe auf dem spirituellen Pfad dagegen entspringt dem Bedürfnis nach Befreiung und dem Vertrauen in die Buddhanatur, die wir alle haben. Sie basiert auf natürlicher Selbstwertschätzung. Wir übernehmen dabei die Verantwortung für uns, weisen Unheilsames zurück und öffnen unser Herz für die anderen und für den Lehrer. Alles wird zum Spiegel. Bei diesem Prozess ist ein weiser, authentischer Lehrer hilfreich, der seine Rolle mitfühlend, kompetent und ethisch fundiert einnimmt.

Sei dir selbst ein Licht

„Einem Vollendeten kommt nicht in den Sinn: „Ich muss die Gemeinschaft der Mönche führen, oder die Gemeinschaft muss mir folgen“ … Deshalb seid euch selbst das Licht, seid euch selbst die Zuflucht, sucht keine andere Zuflucht, habt die Lehre als Licht, habt die Lehre als Zuflucht, sucht keine andere Zuflucht.“ (Dighanikaya Sutta 16 II)

Der Buddha drückt hier ganz klar aus, dass die Lehre die Zuflucht ist, nicht der Lehrer. Im Tantra wird die Hingabe an den Lehrer als spirituelles Feuer gesehen, welches das Herz für den Erleuchtungsgeist öffnet. Und deshalb wird dem Lehrer ein so großer Stellenwert eingeräumt.

Meist nimmt er auch in der Hierarchie seiner Dharma-Organisation den höchsten Rang ein, und da kann es, nicht nur im tantrischen Buddhismus, leicht zur Verwechslung der Guru-Rolle des Lehrers und seiner Rolle als auch „weltliches“ Oberhaupt der spirituellen Gemeinschaft kommen. ­Das kann zu großen Missverständnissen führen, besonders wenn der Lehrer aus Asien kommt und seine dort unangefochtene Autorität auch hier zum Maßstab macht, möglicherweise nur, weil er es nicht anders kennt. In stark hierarchisch gegliederten Gemeinschaften, die kaum Kritik am Lehrer zulassen, herrscht unterschwellig die unausgesprochene Übereinkunft, dass der Lehrer unantastbar ist und real über allem steht. Wenn er Fehler macht, einfach weil auch er ein Mensch ist, wird ihm das übel genommen, oder es wird verheimlicht. Daraus erwachsen Vermeidungsstrategien und unausgesprochene und daher für Sangha-Mitglieder verunsichernde Verhaltenskodexe. Tabus, die diesen zu Grunde liegen, vernebeln die Wahrnehmung. Man weiß nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Es gibt wenig Offenheit, aber einen Kult um den Lehrer und das öffnet vielfältigen Formen von  Missbrauch Tor und Tür. Davor hat der Buddha in seinen Schriften immer wieder gewarnt.

Von der Stärke menschlicher Schwächen

Solange wir Autoritäten verehren, wählen wir Autoritäten als Vorbilder. Vorbilder, auch Gurus, werden in unserer mediensüchtigen Gesellschaft schnell zu Idolen. Wir idealisieren sie und machen sie zur Projektionsfläche für unerfüllte Hoffnungen, Wünsche und Träume.

Chögyam Trungpa, ein tibetischer, buddhistisch-tantrischer Lehrer, war verheiratet, führte aber in aller Öffentlichkeit ein reges Beziehungsleben mit zahlreichen Partnerinnen. Er war häufig betrunken. Dennoch wurde er von seinen Schülern sehr verehrt. Trungpa Rinpoche war – trotz oder gerade wegen seiner offensichtlichen, menschlichen Schwächen – ein großer Lehrer, der es seinen Schülern erschwerte, sich mit ihm als menschlichem Wesen zu identifizieren. Er wirkte seiner Verehrung als unantastbare Autorität entgegen, indem er seine Schwächen in aller Öffentlichkeit präsentierte. Wer sich nicht auf einen Thron setzt, kann auch nicht von ihm gestürzt werden. Seine Schüler konnten sich entscheiden, mit den menschlichen Schwächen des Meisters zu leben und seiner spirituellen Kompetenz zu vertrauen oder zu gehen. So wurde möglichen Symbiose-Sehnsüchten seitens der Schüler ein Riegel vorgeschoben. In diesem Sinne agierte Trungpa mit „verrückter Weisheit“, die als Brücke in die Buddhanatur diente. Ob der Buddha sich einen Dharma-Lehrer wie Trungpa hätte vorstellen können? Wir können darüber nur spekulieren.

Ethische Essentials

Bedeutet das einen Freibrief für buddhistische Lehrer, die gegen geltendes Recht oder ethische Grundsätze verstoßen, die vielleicht töten, stehlen, sexuellen Missbrauch betreiben? Die Bindung eines Meisters an den Dharma sowie an ethische Grundregeln, die sich daraus ableiten sowie die Bindung an unser westliches Rechtsverständnis, erscheint mir ganz wesentlich. Wer dagegen verstößt, muss sich verantworten, oder?

Die emotionale und mentale Abhängigkeit vom Meister ist nicht nur auf dem tantrischen Weg häufig ein Durchgangsstadium. Sie löst sich auf, wenn die Schülerin spirituell erwachsen wird und ihrer inneren Lehrerin mehr und mehr zu vertrauen beginnt. Spirituelle Lehrer haben in diesem Kontext eine besondere Verantwortung. Sie dürfen die Hingabe ihrer Schüler nicht ausnutzen, sondern sollten angemessen und liebevoll deren inneres Wachstum begleiten.

Für Psychotherapeuten gelten besondere rechtliche Regelungen, z. B. dürfen sie keinen sexuellen Kontakt mit Klienten während der Therapie haben. Dies gilt als Beziehungsmissbrauch. Im Dharma haben wir ebenso klare ethische Regeln für den Umgang von Lehrern und Schülern. Der Buddha hat sie eindeutig formuliert.

Verstößt ein spiritueller Meister gegen geltende ethische Normen oder Regeln, hat das Auswirkungen auf die Schüler, die sich in einem Übertragungsprozess mit ihm befinden, besonders auf jene, die vom Lehrer psychisch abhängig sind. Sie nehmen oft persönlichen Schaden. Ein Lehrer sollte, gerät er in Verruf, die Verantwortung für sein Handeln übernehmen, die Lehre und das Wohl der Schüler im Auge haben und gegenüber der Sangha und wenn nötig einer größeren Öffentlichkeit klar Stellung beziehen.

Ein offenes Gespräch über Fehlverhalten, Missverständnisse und Verletzungen basierend auf Achtsamkeit und gegenseitiger Wertschätzung, dann das Praktizieren von Vergebung und die spirituelle Reinigung sowie die Neuformulierung des Commitments zwischen Lehrer und Schüler könnten einen Heilungsprozess für die spirituelle Gemeinschaft und den Lehrer möglich machen. Für alle gilt, Verständnis füreinander und den gemeinsamen Weg auf der Basis von Mitgefühl zu entfalten.

Der Lehrer als primus inter pares

Der Buddhismus vermittelt die wunderbare Botschaft, dass wir alle als Wesen, die die Buddhanatur haben, grundsätzlich gleich sind. Erleuchtete Wesen unterscheiden sich von uns durch ihre Verwirklichung. Sie zeigen uns, was für jeden von uns möglich ist. Wenn wir sie um Hilfe auf unserem Pfad bitten, werden sie diese gewähren, weil es ihnen ein Bedürfnis ist, auch uns zur Verwirklichung zu führen. Daraus folgt: Der Lehrer unterscheidet sich von einem gewöhnlichen Wesen durch seine Erfahrungen auf dem Pfad, durch Kenntnis der Lehren und Methoden, seine Verwirklichung sowie die Einbindung in eine lebendige, spirituelle Tradition. Er ist primus inter pares.

Manche mittelalterlichen Verehrungskulte, hierarchische, aus Asien übernommene Strukturen, die starke Machtgefälle etablieren, sind in der heutigen Zeit, in der sich traditionelle Strukturen auflösen, autoritäre Gesellschaften kaum noch eine Zukunft haben und die Globalisierung und Vernetzung der Welt voranschreitet, nicht mehr zeitgemäß. Sie widersprechen letztlich sowohl der buddhistischen Lehre als auch den Gleichheitsgrundsätzen in demokratisch verfassten Gesellschaften. Die Weisheitslehren dienen der Befreiung aller fühlenden Wesen. Spirituelle Lehrer/innen sind ihre Botschafter, sind unsere Freunde und Wegweiser. Sie helfen uns, das innere Licht zu entzünden. Der spirituelle Weg, den der Einzelne heute geht, ist kein kollektiver, sondern ein ganz persönlicher.

Klar Position beziehen

Von Vereinen und Dach-Verbänden, die den Buddhismus in der Öffentlichkeit vertreten, z.B. in Deutschland die DBU, erwarte ich ethisch fundierte Statements, die auf den Lehren basieren, zu Fehlverhalten von Lehrern, die unnötiges Leiden unter dem Deckmantel des „Egoshooting“ schaffen und dabei noch gegen geltendes Recht verstoßen. Ich bin froh, dass wir in einer demokratischen Gesellschaft leben. Man setzt sich hier rechtstaatsmäßig mit Fehlverhalten und Rechtsbrüchen einzelner Bürger auseinander. In einem Rechtsstaat überträgt man ein Gerichts-Urteil zu einer Person nicht auf eine ganze Religion und deren Anhänger. Doch man erwartet von Verbänden, Vereinen, Religionsgemeinschaften, Parteien ein öffentliches Statement, wenn es sich z.B. um Missbrauch von Machtpositionen handelt, die potentielle Täter im Rahmen ihres Engagements für diese Organisationen ausüben. In Religionsgemeinschaften ist das besonders wichtig, denn sie stehen für ethische Werte. Sie haben Vorbildcharakter. Ihre Repräsentanten stehen für die Lehren, die sie vertreten. Die Verwicklung von spirituellen Führungspersönlichkeiten in Skandale erschüttert Menschen, die mit einer Religion oder Weltanschauung sympathisieren oder ihr vertrauen. Sie benötigen eine Orientierung, eine Leitlinie. Es muss eine Chance für sie geben, Vorwürfe unbefangen zu besprechen. Damit schafft man Wertschätzung und Zuversicht. Zweifel können zerstreut werden.

Der öffentliche Diskurs über Machtmissbrauch ist eine Errungenschaft freiheitlicher Gesellschaften, nicht vergleichbar mit feudalen oder diktatorischen Systemen.

Schon aus unserem Demokratieverständnis heraus und dem damit verbundenen Gerechtigkeitsempfinden ist es erforderlich, dass betroffene Verbände sowie einzelne Organisationen, vor allem die Deutsche Buddhistische Union, sich öffentlich und ethisch fundiert positionieren. Nicht die Taten einzelner Lehrer sondern die Weigerung buddhistischer Organisationen, klar Stellung zu beziehen, wird sonst dazu führen, dass für mehr und mehr Menschen der buddhistische Pfad kein gangbarer Weg mehr sein wird. Ich glaube, das gilt vor allem für jüngere netzaffine und demokratiegewohnte Generationen, für die Hierarchien als geschlossene Systeme eine Fossil aus anno Dazumal sind.

→ DBU Diskurs