DOKUMENT 2: Brief von Sogyal Rinpoche an seine Sangha, Juli 2017
DBU Diskurs > Thema: Sogyal Rinpoche: Fehlverhalten oder Vajrayana?
Dieser Brief war die erste Reaktion von Sogyal Rinpoche auf den Brief der acht Schülerinnen und Schüler. Geschrieben im Juli 2017 an eine einzelne Person, wurde er dennoch bald öffentlich.
Hallo (Name von der Redaktion entfernt),
ich schreibe dir, weil du ein Mitglied unserer Sangha bist und daher einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen hast. Wie du wahrscheinlich weißt, haben sich vor kurzem eine Reihe von Leuten sehr kritisch über mein Verhalten als buddhistischer Lehrer geäußert. Einige von ihnen, die meine Schüler gewesen sind und die ich liebe, haben gesagt, mir als ihrem Lehrer zu folgen, sei eine Erfahrung gewesen, die für sie verletzend war und Misstrauen in ihnen hat entstehen lassen. Ich weiß auch, dass diese Nachricht innerhalb unserer Gemeinschaft Schmerz und Verwirrung verursacht hat. Mir fehlen die Worte, um zum Ausdruck zu bringen, wie unendlich betrübt und traurig ich über all das bin.
Mein ganzes Leben habe ich mein Bestes versucht, um dem Buddhadharma zu dienen und diese Lehren in den Westen zu bringen, und es vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke, was ich für das Wohlergehen meiner Schüler tun kann, an dem ich sie nicht in meinem Herzen trage und Sorge und Verantwortung für ihren spirituellen Pfad empfinde. Nun ist jedoch klar, dass einige Menschen sich sehr enttäuscht und verletzt fühlen und nach Antworten und Veränderungen suchen. Bitte sei versichert, dass ich das sehr ernst nehme und nicht ignorieren werde. Ich selbst weiß ganz eindeutig, dass mein Verhalten anderen gegenüber niemals von eigennützigem Interesse oder schädlicher Absicht bestimmt war. Das wäre für mich undenkbar.
Gleichzeitig muss ich die Erfahrungen, die einige meiner Schüler angesprochen haben, hören und aufnehmen, und in den letzten Tagen habe ich sehr eingehend darüber reflektiert, welche Richtung ich einschlagen und auf welche Weise ich auf diese Punkte eingehen werde.
Ich habe mich bereits an Meister gewandt, die echtes Interesse an Rigpa und an unserem Wohlergehen haben, wie zum Beispiel Dzongsar Khyentse Rinpoche, Mingyur Rinpoche und andere, und habe sie um Rat gefragt, was wir tun sollen. Und ich werde ihre Hinweise befolgen.
Wie ich bei verschiedenen Gelegenheiten schon erwähnt habe, sind dieses Jahr und die folgenden beiden Jahre gemäß astrologischen Voraussagen eine Zeit, in der Hindernisse für meine Gesundheit und ganz allgemein für mein Leben auftreten können. Das wurde vor einigen Jahren von Kyabje Trulshik Rinpoche und später noch einmal von Orgyen Tobgyal Rinpoche bestätigt. Ich habe daher beschlossen, ihrem Ratschlag zu folgen und so bald wie möglich ins Retreat zu gehen. Schon seit vielen Jahren sehne ich mich danach, und ich habe das Gefühl, dass jetzt der richtige Augenblick dafür gekommen ist. Ich möchte während meines Retreats tiefgehend über mich selbst nachdenken, darüber, wie ich meine Schüler am besten unterstützen kann, und über die Zukunft von Rigpa.
Im Moment konzentriere ich mich ganz besonders auf die Lojong-Lehren – das Training des Geistes in Mitgefühl – und ein Vers, der mir speziell als Leitfaden dient und an den ich stets denke, ist:
„Möge ich meinen Geist in all meinen Handlungen untersuchen,
und wann immer ein negativer Gedanke oder eine negative Emotion entsteht,
werde ich ihnen, da sie mich und andere gefährden,
entschlossen entgegentreten und sie abwehren.”
Ich beobachte meinen Geist fortwährend, mit Achtsamkeit und Gewahrsein, um in all meinen Worten und Handlungen wahrhaft mitfühlend zu sein. So stehen die Dzogchen- und Lojong-Lehren im Moment sehr stark im Mittelpunkt meiner eigenen Reflexion und Praxis. Man könnte in gewissem Sinne sagen, dass mein Retreat bereits begonnen hat.
Wenn ich im Retreat bin, wird das für andere Lehrer die Möglichkeit eröffnen, die Rigpa-Sangha in stärkerem Maße anzuleiten und zu beraten, und darum werde ich sie auch bitten. Gleichzeitig ist es der richtige Zeitpunkt, um die Rigpa-Arbeit an meine vertrauenswürdigen Schüler zu übertragen und selbst einen großen Schritt zurückzutreten.
Denke nur an die vielen außergewöhnlichen Belehrungen, die ich im Laufe der Jahre gegeben habe: was für ein unglaublicher Dharma-Reichtum. In gewissem Sinne brauchst du nicht viel mehr Belehrungen – es sind genug da für mindestens ein Leben! Also lass uns den Schwerpunkt darauf legen, diese Belehrungen in die Tat umzusetzen, durch Reflexion und Praxis.
Aber ich werde natürlich weiterhin für euch alle da sein und während meines Retreats Belehrungen mit euch teilen, euch anleiten und euch treffen, wann immer der Zeitpunkt dafür richtig ist. Ich werde das im Voraus planen, denke deshalb bitte nicht für einen einzigen Augenblick, dass du alleine oder im Stich gelassen würdest!
In gewisser Hinsicht wird das Retreat tatsächlich eine Vorbereitung auf meinen Tod sein. Denn letztendlich müssen wir alle erkennen: Das Leben ist vergänglich. Wir alle müssen eines Tages sterben. Und wir wissen nicht wann. Wie ein großer Meister es einmal ausdrückte: „Das Dharma zu lehren und den Menschen zu helfen, ist wundervoll, aber denke daran: Du musst sterben.“ Wir alle müssen uns selbst gegenübertreten, wenn wir sterben; deshalb müssen wir wirklich vorbereitet sein.
Ich bin euch allen so dankbar für euer Engagement und ganz besonders für die Liebe und Unterstützung, die ihr einander in dieser schwierigen Zeit gebt. Es ist äußerst wichtig, dass wir das tiefe Gefühl von Freundschaft, Offenheit und echter Fürsorge füreinander, das in unserer Sangha bereits besteht, weiter vertiefen.
Ich möchte euch alle ermutigen, aufeinander zuzugehen, gut füreinander zu sorgen, einander zuzuhören und füreinander da zu sein im liebevollen, mitfühlenden und offenen Geist von Buddhas Lehren.
Ich weiß, dass viele von euch im Moment mit unangenehmen Fragen und Zweifeln zu kämpfen haben. Vergesst dabei aber bitte nicht all die guten Dinge und das große Ganze unserer Arbeit. Ich weiß, dass viele von euch den unglaublichen Segen der Lehren und die Transformation, die sie bewirken können, direkt erfahren haben, und dass viele von euch mir gegenüber Liebe und Dankbarkeit empfinden.
Vergesst niemals, was am allerwichtigsten ist: diese unglaublichen Lehren, die wir miteinander geteilt haben, und ganz besonders die unschätzbaren Lehren des Dzogpachenpo. Wir haben gemeinsam kostbare Momente erlebt, in denen wir alle den tiefgründigsten Aspekt unseres Bodhichitta, unsere Buddhanatur, die letztendliche Natur des Geistes erfahren haben. Wie könnten wir uns nicht daran erinnern? Wir müssen immer an diese Belehrungen denken und wir müssen sie halten, damit sie bis weit, weit in die Zukunft hinein Bestand haben. Sie dürfen nicht sterben.
Ich werde auch beten und dafür praktizieren, dass Heilung und Verständnis vorherrschen, und ich werde, im Geiste der Kadampa-Meister der Vergangenheit, das Leid auf mich nehmen und das Glück und die Liebe den anderen geben. Ich möchte euch alle aus tiefstem Herzen bitten, die Lehren und einander niemals aufzugeben, sondern euch stattdessen einsgerichtet darauf zu konzentrieren, das wahre und unfehlbare Dharma zu praktizieren, angespornt von der unermesslichen Bodhichitta-Motivation, gehalten in der tiefgründigen und weiten Sicht der Nicht-Dualität und angeleitet vom Segen aller Meister unserer Linie.
Diese Gedanken wollte ich unbedingt sofort mit dir teilen. Ich werde weiter reflektieren und bald noch mehr zu sagen haben.
Mit Liebe und Segen
Sogyal Rinpoche