Meinung: Wir müssen über die Handlungen des Dalai Lama sehr sorgfältig nachdenken

DBU Diskurs   >   Thema: Kontroverse um den Dalai Lama

Ein Doktorand der buddhistischen Studien ruft zu Geduld und Aufmerksamkeit für den Kontext auf.

Als ich zum ersten Mal von der jüngsten Begegnung des Dalai Lama mit einem kleinen Jungen hörte, brach mir das Herz. Zuerst konnte ich mich nicht dazu durchringen, das Video anzusehen. Ich dachte daran, was der Junge erlebt haben muss, und mir war klar, dass dies verheerend für die ohnehin schon verletzliche tibetische Gemeinschaft sein würde.

Ich bin Doktorand in Buddhismus- und Männlichkeitsstudien an der Northwestern University[i] und praktizierender Buddhist. Ich spreche Tibetisch und habe in Dharamsala, wo auch Seine Heiligkeit der Dalai Lama lebt, gelebt, geforscht und praktiziert. Seit jeher schätze ich das Wirken des Dalai Lama für FriedenGewaltlosigkeitreligiöse Toleranz und Umweltgerechtigkeit sehr.

Die Vorstellung, dass der Dalai Lama einem Kind geschadet hat, widersprach allem, was ich über ihn wusste, aber mir war auch klar, dass dieser Vorfall ernsthaft untersucht werden musste. Seit dem Bekanntwerden der Nachricht habe ich über die Geschehnisse nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es wichtig ist, die Details des Vorfalls für ein englischsprachiges Publikum in angemessener Weise zu erläutern.

Bevor ich das tue, möchte ich zugeben, dass das Verhalten des Dalai Lama in dem Video ausgesprochen seltsam und zutiefst unangenehm zu beobachten war. Er hat ein Kind verunsichert, und das große Machtgefälle zwischen den beiden hat diesen Vorfall besonders beunruhigend gemacht. Allein die Tatsache, dass „der Dalai Lama einen Jungen aufforderte, ‚an seiner Zunge zu lutschen‘“, reichte aus, dass sich mir der Magen umdrehte.

Nachdem ich mir das Video jedoch selbst angesehen habe – die vollständige Version von 1:59 Minuten, nicht die weit verbreitete bearbeitete Version –, bin ich auch der Meinung, dass sich das Geschehene nicht so einfach in eine Schublade stecken und mit anderen Fällen sexuellen Fehlverhaltens westlicher religiöser Führer vergleichen lässt, die zweifellos vielen Lesern in den Sinn gekommen sind.

Bei der Interpretation der Geschehnisse müssen wir einen differenzierteren Ansatz wählen, der tibetische Stimmen einbezieht und die Geschehnisse nicht auf ein bekanntes Drehbuch reduziert, ohne im Kontext darüber nachzudenken, wer der Dalai Lama ist, einen Ansatz der die Geschichten von Überlebenden sexuellen Fehlverhaltens in religiösen Zusammenhängen im weiteren Zusammenhang hervorhebt.

Westliche Medien lassen regelmäßig die Ansichten und Interpretationen der Tibeter selbst über ihre Gemeinschaft außer Acht. Diese Geschichte bildete da keine Ausnahme. Die Berichterstattung folgte einem vorhersehbaren Schema, nach dem die meisten Berichte den Vorfall in kurzen, anzüglichen Worten schilderten, ehe sie die Stimmen der moralischen Empörung erhoben, die den Kontext aber außer Acht ließen.

Einige Artikel boten zwar dürftige Erklärungen zum tibetischen kulturellen Kontext, aber diese hatten oft den Effekt, dass sie die neo-orientalistisch geprägten Spekulationen förderten, Tibeter seien unreflektiert und unkritisch religiös, während der „säkulare“ Westen intellektuell und moralisch überlegen sei.

Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Sexuelles Fehlverhalten ist ein zutiefst menschliches Problem, das mit der dominanten sozialen Position von Männern und der perversen Manipulation in asymmetrischen Machtverhältnissen zusammenhängt. Es kommt überall vor. In jüngster Zeit haben sowohl tibetische Männer, die sexuelles Fehlverhalten im klösterlichen Umfeld überlebt haben, als auch tibetische buddhistische Frauenmit solchen Erfahrungen mutig ihre eigenen Geschichten erzählt.

Im Westen wurden wir mit einem Skandal nach dem anderen wegen sexuellen Missbrauchs durch Geistlicheund Jugendpfarrer in christlichen Kontexten überschwemmt, was in diesem Fall zu einem zu vereinfachten Vergleich beitrug. Eines der vielen Probleme bei einem solchen Vergleich ist jedoch, dass es sich im hier besprochenen Fall um ein einmaliges Ereignis in einer öffentlichen Umgebung handelte, was für Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern untypisch ist.

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Kindesmissbrauch in den meisten Fällen über einen längeren Zeitraum hinweg stattfindet, oft im Rahmen einer Beziehung. Täter bauen typischerweise erst einmal Vertrauen auf und bringen die Kinder dann in eine private Umgebung, um sie zu missbrauchen, das war hier nicht so. 

Einer meiner tibetischen Freunde bemerkte, dass schändliche Begierden selten, wenn überhaupt, in einer Fernsehsendung vor zahllosen Zuschauern ausgelebt werden; wir neigen dazu, unsere lüsternen Begierden hinter geschlossenen Türen zu verbergen. Es ist in diesem Zusammenhang auch erwähnenswert, dass der Dalai Lama sein ganzes Leben lang eine spielerische Persönlichkeit an den Tag gelegt hat. In dem Video lacht und lächelt er und zeigt keine Verlegenheit oder Scham.

Ich möchte das, was sich in dem Video abgespielt hat, nicht abstreiten oder abtun, und ich möchte auch nicht behaupten, dass ältere Menschen nicht zu Missbrauch fähig sind. Aber ich denke, dass der Kontext Hinweise auf die Absicht des Dalai Lama offenbart: Meiner Ansicht nach handelte es sich nicht um einen Mann, der aus einem perversen Verlangen heraus handelte, sondern um einen Nicht-Muttersprachler, der in dem Versuch, unbeschwert zu sein, eine Fehleinschätzung traf, die sich weit über kulturelle Horizonte hinweg erstreckte.  

Wie Generationen von Gender-Forscher:innen bereits festgestellt haben, weckt die lange Geschichte des Machtmissbrauchs durch ältere Männer zwangsläufig Misstrauen gegenüber manchen Verhaltensmustern. Ein einzelnes Ereignis kann auf ein weitreichenderes Umfeld des Missbrauchs hinter verschlossenen Türen hindeuten, das erkenne ich uneingeschränkt an. Wachsame Aufmerksamkeit ist notwendig, um Kinder vor Missbrauch zu schützen.

Für mich ist dieses Video aber nicht der Beweis, dass es sich hier um Kinderschänder handelt, der von einem lüsternen Verlangen getrieben wird. Getreu seinem langjährigen spielerischen Charakter war er scherzhaft und folgte einem tibetischen kulturellen Skript zwischen Großeltern und Enkelkindern, das mit einer Umarmung beginnt, zu einem Kuss übergeht und mit einem schnappen nach der Zunge endet. Er weiß offensichtlich, dass er die Situation falsch eingeschätzt hat und hat sich entschuldigt. Wir sollten nicht aus einem merkwürdigen, unangemessenen oder anstößigen Ereignis auf einen insgesamt problematischen Charakter schließen.

Ich möchte auch darauf hinweisen, wie wichtig der Kontext für die Interpretation des Dalai Lama und seiner Handlungen ist. Unzählige Tibeter:innen und andere Buddhist:innen sehen in ihm einen lebenden Buddha, der sich im Laufe vieler Leben eifrig bemüht hat, seinen Geist von allen sinnlichen Begierden (‚dod chags) zu reinigen und grenzenlosen Gleichmut zu erlangen. Für Menschen, die ihn auf diese Weise verstehen, ist es undenkbar, dass er aus einem lüsternen Verlangen heraus handelt.

Andere, die dieses Video sehen, sehen jedoch einen älteren religiösen Titanen, der die Grenzen eines unschuldigen Jungen verletzt. Gegenüber dieser Gruppe kann ich mich nicht auf die buddhistische Lehre oder die tibetische Geschichte berufen, aber ich kann auf zwei Dinge hinweisen. Erstens waren die Kommentare des Jungen und seiner Mutter anschließend fröhlich.

Zweitens schlage ich vor, den merkwürdigen Zeitpunkt dieser Enthüllungen zu betrachten – volle zwei Monate nach dem Ereignis und nicht durch die Familie oder Freunde des Jungen. Der Dalai Lama ist eine hochbrisante politische Figur, die seit Jahrzehnten von der chinesischen Regierung angegriffen und verleumdet wird. Es lohnt sich zu hinterfragen, wer ein Interesse daran haben könnte, ihn zu diffamieren – und das Video so zu bearbeiten, dass der Kontext verfälscht wird.

Als Wissenschaftler für Maskulinität und Religion habe ich mich der Aufdeckung der Art und Weise gewidmet, wie sich männliche Macht in den aufrichtigen religiösen Bestrebungen der Gläubigen verstrickt und ein Umfeld kultiviert, in dem Männer diese Macht auf perverse und verabscheuungswürdige Weise erotisieren und missbrauchen.

Obwohl der jüngste Vorfall beunruhigend war, erreicht er nicht dieses Niveau. Anstatt voreilig zu dem Schluss zu kommen, dass der Dalai Lama ein Missbrauchstäter ist, könnten wir die Gelegenheit nutzen, auf die vielen, vielen Stimmen von Frauen zu hören, die sich melden, um über das weitverbreitete Problem des sexuellen Missbrauchs durch buddhistische Vajrayana-Lehrer zu sprechen – auch hier in den USA –, Stimmen, die routinemäßig abgetan werden.

Ich schließe diese Überlegungen mit einem Aufruf zur Geduld. Ich plädiere dafür, den Dalai Lama nicht im engen Rahmen eines Fehlers zu betrachten, sondern im weiteren Rahmen seiner zahllosen Beiträge für die Welt, mit einem Bewusstsein dafür, wie der Kontext unser Verständnis der Ereignisse filtert.

Joshua Ballier Shelton

Übersetzung: Kirsten Schulte 

Der Beitrag ist auf Englisch erschienen auf: https://tricycle.org/article/dalai-lama-actions/

Joshua Brallier Shelton ist Doktorand in der Abteilung für Religionswissenschaften an der Northwestern University.


[i] In Evanston und Chikago, USA

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