Viel Lärm um nichts? – Ein Beitrag zur Lösung der Dalai Lama-Kontroverse

DBU Diskurs   >   Thema: Kontroverse um den Dalai Lama

22. April 2023 auf Buddhistdoor.net (EN), 25. April 2023 auf buddhismus-deutschland.de (DE)

Tibetische und Himalaya-Gemeinschaften protestieren zur Unterstützung des Dalai Lama in Dharamshala (Quelle: YouTube, VOA)

Der Dalai Lama ist ein Mann mit tausend Gesichtern – nicht weil er doppelzüngig wäre oder Missetaten begangen hätte, sondern wegen der vielfältigen Art und Weise, wie Menschen in aller Welt ihn sehen und verstehen. Für Tibeter, insbesondere für diejenigen, die seiner Gelug-Schule des tibetischen Buddhismus folgen, ist er eine Verkörperung alles Guten, ein Bodhisattva, der gelobt hat, unermüdlich zu wirken, endlose Leben hindurch, um alle Wesen vor der eigenen Unwissenheit zu retten. Für alle anderen Tibeter bleibt er ein Symbol der Hoffnung auf den Erhalt ihrer Kultur, die nach wie vor bedroht ist.

Für einen Großteil der westlichen Welt ist er vor allem eine Kuriosität, eine Projektionsfläche für Idealisierung und Dämonisierung – die beiden gegensätzlichen Pole des Orientalismus. In China sehen manche den Dalai Lama als eine spaltende Kraft in einer Gesellschaft, die Harmonie propagiert. All diese Gesichter werden auf den Dalai Lama projiziert, der seit seiner Jugend als tibetischer Mönch lebt, aus seiner Heimat ins Exil geflohen ist und den Friedensnobelpreis dafür erhalten hat, „dass er sich für friedliche Lösungen einsetzt, die auf Toleranz und gegenseitigem Respekt basieren, um das historische und kulturelle Erbe seines Volkes zu bewahren.“ (Nobelpreis)

Im Laufe der Jahre hat der Dalai Lama in der ganzen Welt große Verehrung erfahren. Dennoch kam es zu Kontroversen, etwa als er sagte „Europa gehört den Europäern“ und Flüchtlinge aus anderen Ländern sollten in ihre Heimat zurückkehren, um sie wieder aufzubauen. (France 24) Stirnrunzeln erzeugte auch seine Aussage: „Wenn ein weiblicher Dalai Lama kommt, sollte sie attraktiver sein.“ (NBC News)

In beiden Fällen legten sich der anfängliche Schock und die Empörung, als Wissenschaftler und Journalisten den kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang erläuterten, der zu den Äußerungen geführt hatte. Bei der Bemerkung über die Einwanderung hätte der Dalai Lama genauso gut von sich selbst und seinen tibetischen Landsleuten sprechen können, die sich danach sehnen, in ihr Heimatland zurückzukehren und Indien wieder den Indern zu überlassen. Und die zweite Bemerkung könnte man seinem eigenen selbstironischen Humor zuschreiben, da er sofort darauf lachte, sein Gesicht verzog und sagte, er glaube nicht, dass die Menschen dieses Gesicht lieber sehen möchten.

Leider gilt für diejenigen, die versuchen, einen Anlass zu schaffen, um moralische Empörung zu verbreiten, was Jonathan Swift schon 1710 schrieb:

Die Lüge kann fliegen, und die Wahrheit humpelt hinterher... 
Fountainhead Press

Unglücklich ist auch, dass diejenigen, die den Zusammenhang erläutern, oft die Bedenken derjenigen übersehen oder mißachten, die in erster Linie betroffen waren. Viele Menschen in Europa waren kurz vor der Erklärung des Dalai Lama, Europa gehöre den Europäern, mit Wellen von Rassismus, Nationalismus und Islamophobie konfrontiert. Frauen auf der ganzen Welt sind erbitterter Frauenfeindlichkeit ausgesetzt, die von einem subtilen „Du bist so hübsch, du solltest mehr lächeln“ bis zu eindeutigen gesetzlichen Einschränkungen, zu Gewalt und Mord reicht. Auch wenn die Erklärungen zum Humor des Dalai Lama und dem kulturellen Hintergrund durchaus hilfreich sind, wäre es gut, wenn die Autoren auch die oft tiefempfundenen bedrückenden Erfahrungen der Menschen berücksichtigen würden, die sich dadurch verletzt fühlen.

All dies führt uns zu der jüngsten Aufregung um das Video, in dem der Dalai Lama einen kleinen indischen Jungen küsst und ihn auffordert, „meine Zunge zu lecken“. Auch hier war die Reaktion schnell, vor allem in den sozialen Medien, wo viele der schlimmsten Verdammungen gegen den Dalai Lama erhoben wurden. Die Anschuldigungen schienen alle völlig unvorbereitet zu treffen, denn einige behaupteten zunächst, der Clip sei ein „Deepfake“ [Anm. d. Redaktion: manipulierte Videoaufnahme, täuschend echt wirkend, jedoch durch künstlicher Intelligenz hergestellt], und andere verwiesen auf Accounts in den Netzwerken, die offensichtlich der chinesischen KP nahestanden und einen stark bearbeiteten Clip der Interaktion verbreitet hatten. Sogar das Büro des Dalai Lama schien überrascht worden zu sein, denn es entschuldigte sich eilig für „die Verletzung, die seine Worte verursacht haben könnten“, ohne auf die Handlungen, die damit einhergingen, einzugehen oder eine dringend notwendige Erklärung für den kulturell doch sehr spezifischen Scherz zu liefern.

Als Nachrichtenagenturen auf der ganzen Welt begannen, das Video und die Entschuldigung aufzugreifen, wurde schnell klar, dass die Situation damit beileibe nicht bereinigt war. Es war auch klar, dass die Mehrzahl der allerheftigsten Reaktionen auf die in den sozialen Medien kursierenden stark bearbeiteten Clips zurückzuführen war. Einige Mainstream-Medien, wie z.B. die britische Zeitung Independent, zeigen ein Video, das so bearbeitet wurde, dass der Dalai Lama den Jungen zweimal auffordert, an seiner Zunge zu lutschen, wobei jedweder Kontext der Interaktion fehlt.

Zahllose andere Mainstream-Medien verbreiteten ähnlich bearbeitete Videos. Viele der politisch Rechten nutzten das Video, um den Ruf eines Mannes zu beflecken, der von vielen der Linken geliebt wird. Einige Linke schrieben oder sprachen abfällig über den Dalai Lama und brachten ihn mit anderen religiösen Oberhäuptern in Verbindung. Audra Heinrichs, die für die Nachrichten- und Kommentar-Website Jezebel schreibt, verweist auf den Auftritt des Dalai Lama mit den inzwischen in Ungnade gefallenen Mitgliedern der kriminellen religiösen Gruppe NXIVM Fußnote, bevor sie hinzufügt: „Es sollte nicht zu viel verlangt sein, hier eine grundsätzliche Erklärung einzufordern. Leider bin ich aber katholisch erzogen worden und weiß es daher besser.“ (Jezebel)

Das vollständige Video der Begegnung ist über zwei Minuten lang und zeigt den für das Verständnis notwendigen direkten Zusammenhang, dazu gehört, wie der Dalai Lama den Jungen spielerisch wegstößt, ihm auf die Schulter klopft und lacht, nachdem dieser sich nach vorne gebeugt und seine eigene Zunge herausgestreckt hatte. Diese und andere Aspekte der Interaktion machten den Anwesenden und den meisten, die sie gesehen haben, klar, dass dieser Austausch, obwohl er, oberflächlich betrachtet, seltsam anmuten mag, nicht mit Pädophilie oder Kindesmissbrauch gleichzusetzen ist.

In unserem eigenen Artikel vom 11. April berichteten wir sowohl über die entstandene Empörung, als auch über die häufigsten Reaktionen von Tibetern, Sympathisanten und dem Büro des Dalai Lama selbst – dass er lediglich einen Scherz gemacht habe. Wir stellten auch sicher, dass ein vollständiges, unbearbeitetes Video der Interaktion in den Artikel aufgenommen wurde. [1]

Bis zu diesem Zeitpunkt blieb die Frage „Was für ein Scherz ist das?“ unbeantwortet. Erst später, am 12. April, wurde ein Bild veröffentlicht und vielfach geteilt, das den tibetischen Ausdruck „Che le sa“(„Iss meine Zunge“) erklärte. Am selben Tag twitterte die Website Voice of Tibet ein Video mit Interviews des Jungen, der seine Dankbarkeit für die Erfahrung ausdrückte, und seiner Mutter, die die Veranstaltung organisiert hatte.

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Bald darauf tauchten weitere Videos auf, die belegten, dass der Dalai Lama und der Junge im Vorfeld dieser Begegnung schon mehrmals miteinander gesprochen hatten, und sie erklärten ein Spiel, das Großeltern mit ihren Enkeln zu spielen pflegen: dabei weisen sie mit der Aufforderung „Iss meine Zunge“ das Kind scherzhaft darauf hin, dass es dem Älteren schon so viel abgebettelt hat, dass es nun auch dessen Zunge essen kann. Diese Woche veröffentlichte Buddhistdoor Global eine umfangreiche Zusammenfassung der vielen buddhistischen Persönlichkeiten und Gemeinschaften, die den Dalai Lama verteidigten und gegen die falschen Darstellungen in den Medien protestieren.[2]

Dibyesh Anand, Professor für Tibetologie an der Westminster University, bietet eine weitere Analyse der Berichterstattung in den Medien und den sozialen Netzwerken:

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Doch zu diesem Zeitpunkt war der Schaden für die tibetische Gemeinschaft und andere, die den Dalai Lama tief verehren bereits groß. Gleichzeitig sind die Verweise auf die tibetische Kultur und den Humor des Dalai Lama bei den Verfechtern von Kinderrechten und den Opfern von sexuellem Missbrauch weitgehend ins Leere gelaufen.

In den letzten Jahren ist eine Reihe von bekannten, respektierten und renommierten religiösen Persönlichkeiten des sexuellen Fehlverhaltens beschuldigt worden. Eine der jüngsten und angesehensten unter ihnen ist der Karmapa, Ogyen Trinley Dorje, das spirituelle Oberhaupt der Karma-Kagyü-Schule des tibetischen Buddhismus.[3] Davor schon wurde der renommierte Nyingma-Lehrer Sogyal Rinpoche überführt einige seiner Schüler „schwerem körperlichem, sexuellem und emotionalem Missbrauch“ ausgesetzt zu haben, während andere hochrangige Mitglieder seiner Organisation [Rigpa], „sich zumindest einiger dieser Missstände bewusst waren und es versäumt haben, diese anzugehen, wodurch andere gefährdet wurden.“[4] Darüber hinaus wurden auch Sakyong Mipham Rinpoche und weitere Lehrer innerhalb der buddhistischen Tradition von Shambhala des Fehlverhaltens und des Machtmissbrauchs beschuldigt.

Für Opfer und andere Menschen, die mit der Geschichte des Missbrauchs innerhalb religiöser Gemeinschaften vertraut sind, wirkt vieles, das in diesem Monat zur Verteidigung des Dalai Lama vorgebracht wird, wie ein Echo dieser vergangenen Vorfälle. So erklärte Matthew Remski, Co-Moderator des Conspirituality Podcast und Co-Autor des in Kürze erscheinenden Buches Conspirituality: How New Age Conspiracy Theories Became a Health Threat (PublicAffairs Juni 2023) gegenüber Buddhistdoor Global:

Für mich ist dieses Ereignis ein Spektakel, bei dem sich private und öffentliche Bedeutungen vermischen und einschlagen wie eine Bombe.

Die Interaktion des Dalai Lama mit Kayan Kanodia, dem Jungen aus dem Video, mag in ihrer dyadischen Form unschuldig sein: der Dalai Lama verwendet ungeschickt eine altmodische Geste – der Ältere dringt in den physischen Raum des Kindes ein – und der Junge ist wehrlos durch Ehrfurcht und Freude. Das ist mein persönlicher Eindruck als außenstehender Zeuge, der mit mit der tibetischen Kultur einigermaßen vertraut ist und nachempfinden kann, wie sich diese Ereignisse mit dem Dalai Lama anfühlen.

Aber ich bin auch ein Medien- und Kulturkritiker und kann verstehen, dass die Optik der Machtdynamik in diesem Moment, verstärkt durch Propagandisten, wie Salz sein kann, das in die körperlichen Wunden von Erwachsenen und Kindern gerieben wird, die klerikalen sexuellen Missbrauch sowohl in nicht-tibetischem als auch in tibetisch-religiösem Umfeld erfahren haben. Ein Augenblick zwischen zwei Individuen wirft Licht auf mehrere kulturelle Konfliktfelder.

Diese vielfältigen kulturellen Verwerfungen zu verstehen, übersteigt die Möglichkeiten der meisten Wissenschaftler, ganz zu schweigen von Medienorganisationen oder der breiten Öffentlichkeit. Doch hier sind wir wieder einmal gefragt, wenn es darum geht, Verständnis und Respekt für eine verehrte religiöse Persönlichkeit und das bedrängte tibetische Volk einerseits mit der weit verbreiteten und sehr realen Sorge vieler Menschen über Missbrauch und historische Machtungleichgewichte andererseits in Einklang zu bringen.

Wenn wir aus diesem Ereignis irgendetwas lernen können, dann ist es hoffentlich die Rückbesinnung auf die tiefe Komplexität der Welt um uns herum und die Notwendigkeit, Demut zu empfinden. Diese Demut bedeutet, dass wir sowohl den Opfern von Missbrauch als auch den Mitgliedern einer Gemeinschaft, die sich angegriffen fühlt, zuhören und hoffentlich nicht zulassen, dass eine Gruppe die Stimmen und Erfahrungen der anderen übertönt. Das Leben ist selten schwarz-weiß, und selbst, wenn jemandem durch einen katholischen Priester oder einen tibetischen Lama Schaden zugefügt wurde, müssen wir auch anerkennen, dass dieser Schaden nicht die Güte unzähliger anderer Katholiken oder Tibeter zunichte macht. Und schließlich könnten wir auch über unsere eigene Rolle nachdenken: als Wissenschaftler, Journalisten, Westler, Tibeter, und uns fragen, wie wir am besten mit Sensibilität, Sorgfalt und Offenheit reagieren können in dem Wissen, dass unsere erste Reaktion falsch oder zumindest nur Teil eines weit komplexen Bildes sein könnte.


Der Beitrag wurde VERÖFFENTLICHT auf: 
Buddhistdoor View: Unraveling the Global Spectacle of the Dalai Lama Controversy 
Buddhistdoor Global | April 22, 2023

ÜBERSETZUNG von Monika Deimann-Clemens und Tenzin Pelljor

Anmerkungen

[1] Dalai Lama Apologizes for Inappropriate Conduct with Young Boy (BDG)
[2] Buddhist Leaders and Communities Around the World Protest Misrepresentations of the Dalai Lama (BDG)
[3] Healing Our Sanghas: New Website Seeks Discussion of Karmapa Abuse Allegations (BDG)
[4] Rigpa Publishes Result of Independent Investigation into Alleged Misconduct by Sogyal Rinpoche (BDG)

Weitere Links

→ DBU Diskurs