All we need is less – Wie uns die Corona-Krise in eine Kultur des Genug führen kann

SARS-CoV-2 – so heißt das kleine Biest, das uns näher rückt als die Erderhitzung und der Klimawandel. Näher als der Artenrückgang und das Insektensterben. Näher als die Lebensbedingungen unserer Nachkommen und die Sorgen um die Zukunft der Menschheit. Denn das Corona-Virus kann hier und heute ganz real in unsere Lungen eindringen und uns töten.

Auf diesen direkten Angriff haben wir schnell reagiert – individuell und als Gesellschaft. Um ihn abzuwehren, haben wir Maßnahmen ergriffen, die uns bislang undenkbar schienen: Grenzen und Schulen schließen, Ausgangssperren verhängen und einhalten, Kontakte meiden, Spiel und Sport ausfallen lassen …

Ja, wir können nicht nur auf diese Weise agieren, sondern wir tun es tatsächlich. Weil wir uns so entschieden haben. Weil es notwendig und richtig ist. Weil es viel Mitgefühl, Solidarität und Achtsamkeit enthält. Aber derart zu handeln ist nicht das Leben, das wir eigentlich führen wollen. Es ist erzwungen, einseitig und extrem. Es ähnelt eher einer Askese denn einem sozialen Verhalten.

Doch ist unser normaler Lebensstil nicht gleichermaßen einseitig? Sind unsere bisherigen Gewohnheiten nicht ebenfalls extrem? Sind sie nicht sogar teilweise zwanghaft? Bringen wir uns nicht ständig mit unserer eigenen Kraft in ein System ein, das uns umgekehrt mit den Peitschen Wachstum und Wettbewerb nötigt, einen Überfluss an Dingen anzustreben und die Grenzen zu übertreten, die uns die Biosphäre vorgibt? Hatte der Ökonom und Nobelpreisträger Paul A. Samuelson nicht recht, als er ausrief: „Wir sind eine Gesellschaft des Ich, Ich, Ich – und jetzt. Wir denken nicht an andere und auch nicht an morgen“? Sieht so das Leben aus, das wir wirklich führen wollen? Ist das sozial?

Die aktuellen Ereignisse belegen erneut die Fragilität unserer Wirtschaftsform. Turbulenzen gab es bereits einige: Die Asien-Krise in den 90er-Jahren, der 9/11-Schock 2001, die Banken-Finanz-Krise 2008, die Euro-Krise 2012. Aber keine davon offenbart die Fragwürdigkeit und die Instabilität eines entgrenzten Marktes so deutlich und so umfassend wie die Corona-Pandemie.

Die gegenwärtige Gestaltung der Wirtschaft vollzieht sich nicht nur ständig am Rande eines Crashs, sondern ist auch abhängig von der aktiven Mitwirkung der Bevölkerung. Wirtschaftliche Strukturen sind nämlich keine Naturgesetze, sondern Ergebnisse jahrhundertelang gewachsener kultureller Übereinkünfte. Unzählige Menschen haben sich an ihrer Entwicklung beteiligt. Als ein verallgemeinertes System zur Erfüllung individueller materieller Sehnsüchte ist die heutige Ökonomie jedoch auf Mehrung und Steigerung angewiesen. Wir leben in einer Art Gier-Wirtschaft, die nie zufrieden, der nie etwas genug ist.

Aber wir sind grundsätzlich fähig, diesen egoistischen und prinzipiell unbefriedigten Zustand zu überwinden. Kulturelle Vereinbarungen, also auch wirtschaftliche Strukturen und Ziele lassen sich willentlich ändern. Deshalb sollten wir sie unvoreingenommen überprüfen und Irrwege verlassen. In der Corona-Krise sind wir – wenn auch gezwungenermaßen – in der Lage, mit weniger Stress, Mobilität, Zirkulation, Kontakten, Produktion und Konsum auszukommen. Wir lernen, dass es sich für eine Gemeinschaft lohnt, sich der Situation angepasste Maßstäbe zu setzen und sie einzuhalten.

Dieses Verhalten sollten wir gründlich untersuchen. Tun wir nicht gerade etwas, was wir uns zumindest teilweise auch schon vorher mehr oder weniger heimlich gewünscht haben? Üben wir nicht eine Art Meditation (anhalten und sich die Welt genau anschauen)? Haben wir nicht schon häufiger mit dem Buddha sympathisiert, der vor 2.500 Jahren Gier (mehr haben wollen), Neid (mehr als andere haben wollen) und Verblendung (die Folgen nicht wahr haben wollen) als zentrale Ursachen von Leid identifiziert hat? Weisen uns Überlegungen wie „Stopp! Genug! Es reicht! Kein Mehr mehr!“ nicht direkt darauf hin, wie integer und solidarisch es ist, gut überlegte Wertvorstellungen einzuhalten?

Nach der Corona-Krise sollten wir bei all unseren Aktivitäten die Haltung „Genug“ berücksichtigen. Dieses Genug wird selbstverständlich nicht nur die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung usw.), sondern auch alle Bedingungen für ein gutes Leben enthalten (Austausch, gegenseitige Hilfe, Solidarität, Nächstenliebe, geistiges Wachstum usw.). Und uns gleichzeitig zeigen, wie heilsam und beflügelnd es ist, die Beziehungen zu unseren Mitmenschen ohne kommerzielle Absichten zu gestalten und auf diese Weise eine Nähe zu erfahren, die frei ist vom Verlangen „Was habe ich davon?“

Auf Grundlage einer zufriedenen Genügsamkeit wird Vieles, was im Vergleich zum bisher gewohnten Trott zunächst wie Verzicht und Reduktion erscheinen mag, bald zu nachhaltig zukunftsfähigen Ergebnissen führen: Kleinerer ökologischer Fußabdruck, sinnvollere Vielfalt im Beruf, weniger Lärm und Eingriffe in die Natur, Kooperation statt Konkurrenz, Souveränität und Integrität statt eines permanenten Gefühls von Mangel und Widersprüchen etc.

Als Menschen nehmen wir einen Logenplatz im Universum ein. Wir können bewusst eine Kultur des Genug anstreben. Die Einstellung „Es reicht!“ kann uns in allen Lebensbereichen, in denen wir – mit verheerenden Auswirkungen auf die Biosphäre und nachfolgende Generationen – unseren Eigensinn übertreiben, auf einen durchdachten, ausgewogenen und heilsamen Weg zurückführen.

Auf diese Weise lässt sich ebenfalls erkennen, dass der Klimawandel und das Artensterben letztlich wesentlich bedrohlicher für uns sind wie das Corona-Virus. Das mag nicht für alle jetzt lebenden Menschen gelten, aber auf jeden Fall für unsere Kinder und Enkelkinder, wobei sich die Rücksichtslosigkeit der heutigen Handlungen noch dadurch erhöht, dass unsere Nachkommen ihre Vergangenheit (also uns!) nicht mehr erreichen und ändern können.

Es gilt, möglichst umgehend das Ruder herumzureißen und den Wachstums-Mehrungs-Steigerungs-Maximierungs-Wahn zu beenden: All we need is less. Für einen derartigen Systemwandel ist jedoch eine neuartige Gewichtung unserer Ziele und Beweggründe nötig. Neue Motive braucht das Land. Genauer: Diese neuartigen Antriebskräfte benötigt jeder und jede von uns. Denn letztlich sind es immer einzelne Menschen, die konkrete Handlungen vollziehen und diese Kultur des Genug verwirklichen – selbstverständlich individuell und regional unterschiedlich, denn die Erde ist groß und vielfältig.

Anregungen für diese Umorientierungen gibt es reichlich. Hier sind vier davon:

  1. Der Buddha entdeckte und erforschte einen mittleren Weg. Er lehnte Überfluss und Völlerei ebenso ab wie Askese und Armut. Zudem überwand er die Vorstellung von einem eigenständigen Selbst, indem er die existenzielle Verbundenheit des Menschen mit dem Dasein in den Mittelpunkt seiner Lehre rückte. Buddha hätte den Begriff Mitwelt verwendet, um die Verantwortung des Einzelnen für den nachhaltigen Schutz der Natur zu begründen. Er empfahl Samtusta: Zufrieden sein und Freude finden am Bewirken bzw. am Engagement.
  2. Das Abendland beruft sich seit rund 2.500 Jahren auf vier Kardinaltugenden, nämlich Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit/Mut und Weisheit/Klugheit.
  3. Sehr hilfreich sind die Überlegungen von Ernst F. Schumacher in seinem 1973 verfassten Buch „Small is beautiful – Rückkehr zum menschlichen Maß“.
  4. Vielleicht reicht auch ein Seufzer à la Ödön von Horváth, um dem wertenden Leistung-Ergebnis-Konsum-Eigentum-Vergleichs-Stress zu entkommen: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“.

Die Corona-Krise ist der tiefste Einschnitt in unsere Zivilisation seit dem II. Weltkrieg. Unser Zusammenleben wird sich nie wieder so gestalten lassen wie zuvor – vor allem nicht in den Bereichen Ökonomie, Konsum und globale Mobilität. Dieser Wandel wird verstärkt durch den Aufschwung, den die Digitalisierung durch diese Krise erhält. Eine Rückkehr ins alte Fahrwasser („Zurück auf Los!“) sollten wir gar nicht erst versuchen. Wir sollten uns gleich andere Ziele setzen, andere Motive fördern und andere Wege einschlagen.

Die von einem Virus erzwungene Schrumpfung und die dadurch verursachte ungeplante Rezession mögen sich wie Katastrophen oder gar wie ein Fluch anfühlen. Aber die Einschränkungen und Gewohnheitsänderungen, die wir für die Überwindung der Corona-Krise vollziehen, enthalten viele Hinweise auf neue Chancen und bislang zu kurz gekommene menschliche Fähigkeiten. Die gegenwärtigen Erfahrungen mit Entschleunigung, genauem Hinschauen und Genügsamkeit können uns helfen, überzeugende Beweggründe für unseren Einsatz für den Erhalt der Biosphäre und die Lebensgrundlagen unserer Nachkommen zu finden und sie dauerhaft zu beherzigen und zu pflegen.

Eine freiwillige und von Zufriedenheit, Aufrichtigkeit und Verantwortung durchdrungene Kultur des Genug ist nicht nur eine wohltuende Kraftquelle für jeden Einzelnen und für die Menschheit, sondern auch ein Segen für alle Wesen, die das Licht der Welt noch nicht erblickt haben.

Manfred Folkers, Oldenburg, 20.03.02020